„Taubstumm“ und „erbkrank“

■ Horst Biesold stellte sein Buch über die Zwangssterilisation an Gehörlosen im Faschismus vor / Nach einem Aufruf meldeten sich mehr als 2.000 Betroffene

Der Leiter der Sonderschule für Gehörgeschädigte an der Marcusallee handelte schnell. Horst Biesold, der an der Schule Gehörlose unterrichtete, hatte Einsicht in die schulischen „Protokollbücher“ erhalten, die in der ehemaligen „Taubstummen-Anstalt“ während des Faschismus geführt worden waren. Als er nach acht Tagen um Einsicht in die Schülerakten jener Zeit bat, war es zu spät: Nur noch einige Reste konnte er aus dem Müllcontainer fischen. Biesolds Schulleiter hatte in der Zwischenzeit einen Zivildienstleistenden angewiesen, diese Akten „aus Platzgründen“ zu vernichten.

Von dieser und anderen Behinderungen seiner Recherchen zu Anfang der 80er Jahre wußte Horst Biesold gestern zu berichten, als er sein Buch über die Zwangssterilisation von Gehör

losen im „Dritten Reich“ und die Spätfolgen bei den Opfern vorstellte. Er selbst räumt freimütig ein, daß er zunächst sehr skeptisch war, als ihm vor zehn Jahren ein gehörloser sterilisierter Freund die grausame Aktion schilderte. Doch im Laufe der Recherchen lernte er allein in Bremen rund vierzig zwangssterilisierte Gehörlose kennen (zum Vergleich: heute gibt es rund 800 Gehörlose in Bremen).

Die Sterilisationen wurden aufgrund des rassenhygienischen „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vorgenommen. Gehörlose wurden als „Erbkranke“ stigmatisiert, die nicht zur Weitergabe von Leben berechtigt seien. Ganze Klassen von SchülerInnen und Schülern wurden von ihren Direktoren zur Sterilisation geschickt. Aber auch Gehörlose, die keine Taub

stummen-Anstalten besuchten, wurden - überwiegend von den Gesundheitsämtern oder der NSDAP - gemeldet. Doppelt zum Opfer fielen den Ärzten die schwangeren gehörlosen Frauen: Noch bis zum neunten Monat kam vor der Zwangssterilisierung oftmals die Zwangsabtreibung. Und kaum einer der jüdischen Gehörlosen überlebte das KZ.

Biesolds Buch behandelt die Schicksale der Gehörlosen aus dem ganzen damaligen Deutschen Reich. Mehr als 2.000 Betroffene meldeten sich nach vierzig Jahren auf einen Aufruf hin bei ihm. Über Jahrzehnte hatten sie ihr Schicksal verschwiegen - die ganz große Mehrheit leidet bis heute daran. Zudem war ihnen damals eingeimpft worden, nie über ihre Sterilisation zu berichten - Biesold weiß von Eheleuten, die beide sterilisiert waren und dies

jahrzehntelang voreinander verheimlicht hatten.

Ein „Durchatmen“ unter den gehörlosen Opfern des Faschismus hat Biesold verspürt, als er damit begann, Aufsätze über das Thema zu schreiben und Fernsehfilme zu drehen oder zu betreuen.Das Kapitel über die Entschädigungsregelung von 1980 ist nicht das einzig Aktuelle an Biesolds Buch: Er versteht es auch als Beitrag zu neuerlichen Diskussionen um die „freiwillige Sterilisation“ von Behinderten. Biesold weiß gleich ein aktuelles Beispiel: Von der humangenetischen Beratungsstelle in Köln waren einem Mann die Sterilisation und einer mit ihm verheirateten schwangeren Frau zusätzlich die Abtreibung empfohlen worden.

Horst Biesold, Klagende Hände. Betroffenheit und Spätfolgen in bezug auf das Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses, dargestellt am Beispiel der „Taubstummen“. Jarick Oberbiel, 1988, 304 Seiten, 64 Mark 80.

mc