Beutegermanen

■ Ausschweifungen in das deutsche Wesen und seine derzeitige Endlösung

Hans-Georg Behr

Hat wer was bemerkt? Keine Fanfare dröhnte, still war's und geschäftlich-sachlich. Nicht einmal die Vertriebenenverbände als letzte Gralshüter deutschen Wesens jaulten, und nur die evangelische Kirche warnte, tantig-leise wie immer. Dabei hat ausgerechnet jene Regierung, von der wir traditionsgemäß - Revanchismus erwarteten oder - seit den Ostkrediten - wenigstens deutsches Rückgrat, unter der Federführung eines Kanzlers, der Geschichte können zu müssen glaubt, das Ziel tausendjähriger deutscher Geschichte endgültig aufgegeben.

Vom Atem des historischen Nichtereignisses taumelnd könnten wir noch feststellen, daß sich für einen Teil unseres Volkes nun auch noch das vorletzte Jahrtausend Geschichte (technisch fortgeschritten) wiederholt: Nun kommen die letzten, auch die allerletzten Deutschen aus dem Osten, freigekauft aus den Klauen der asiatischen Horden, heim ins Reich, in unsere freiwestliche Wagenburg. 200.000 werden allein für dieses Jahr erwartet, und das einstige Volk ohne Raum hält zumindest schon Notquartiere bereit.

Wir könnten natürlich, mit der Gnade später Geburt Tausendjährigem gegenüber etwas distanziert, dies als späte Folge abtun, „weil wir“ - so Boris Becker - „damals vor 40 oder 4.000 Jahren nicht ganz so gut umgegangen sind mit anderen“. Wir könnten aber auch, wo doch die Vertriebenenverbände uns so lange erfolgreich eingeredet hatten, daß alle Deutschen schon längst aus drüben vertrieben seien, den gegebenen Anlaß zur Meditation darüber nutzen, was denn überhaupt deutsch sei, im allgemeinen und diesem Besonderen. Historischer Kohl

Von den Germanen lernen wir in der Schule: antike Bewohner des nördlichen Zentraleuropa, den Römern je nachdem Schrecken, zweifelhafte Bündnisgenossen, treue Söldner oder

-Tacitus! - moralischer Vorwurf. Aber so sehr wir die Teutonen oder Armins Cherusker auch mögen - sie als Ahnen zu reklamieren, wäre eine reichlich gewaltsame Adoption, und selbst bei den Sachsen und Friesen wären erhebliche Zweifel anzumelden. Die Vorfahren der Deutschen kamen ein paar Jahrhundertchen später, als Wirtschaftsemigranten notabene und „von drüben“.

Dort, weit weg im Reich des damals und heute Bösen, auf der weißen Landkarte unseres Bewußtseins - hic sunt leones, hieß es im Mittelalter, „in der Steppe“ im heutigen - muß es einen Brutofen gegeben haben, der immer neue deutsche Ahnenvölker produzierte und nach Westen spie. Einige taugten nicht lange, Vandalen und Goten beispielsweise, andere blieben in Zentraleuropa hängen: Sueben, Alemannen, Franken, Sachsen, Jüten und sogar die Bayern, von denen neuere Forschungen behaupten, sie hätten vor den Nürnberger Rassegesetzen kaum bestehen können. Sie mischten sich mit den romanisierten Kelten und Restgermanen, christianisierten sich zögerlich und waren um 800 mehr oder weniger gründlich unter die Knute des Franken Karl geraten.

Deutsche Geschichte beginnt, wenn überhaupt, 843, als Ludwig der Deutsche den wilden Osten seines Opas erbte, etwa genau die heutige BRD. Mit ihr beginnt ein tausendjähriger Drang nach Osten, als wären die Deutschen stets ein Vertriebenenverband gewesen, der wenigstens ein Stück Richtung alte Heimat wollte, wo allerdings mittlerweile die Slaven saßen. Dort, wir wissen, wollten die Wilden bekehrt und zivilisiert werden, Wenden, Preußen und Sorben voran, dort war was zu holen für Hanse, Deutschen Ritterorden und süddeutsche Stammeshäuptlinge. Auch das „Geht-doch-nach -drüben“ gab es, um 1212 beispielsweise für die rheinischen Juden, die in Galizien ihr später Jiddisch genanntes Mittelhochdeutsch beibehielten, und bis ins 18.Jahrhundert galt dies auch für alle möglichen Sekten (nur die Hutterer bildeten eine Ausnahme und zogen geschlossen nach Nordamerika). Deutsche Protestantengemeinden sprenkelten so die südöstliche Landkarte über Ungarn, das Banat, Siebenbürgen, die Krim bis zur Wolga (Saratov) und Kasachstan, während der Nordosten nicht ganz so weitgreifend zum Hegemonialbereich gerechnet wurde („polnische Wirtschaft“ und „böhmische Dörfer“ erinnern noch an unsere koloniale Arroganz). Blubo

Wer und was ein Deutscher war, interessierte (von regelbestätigenden Ausnahmen abgesehen) bis ins letzte Jahrhundert herzlich wenig. Es gab nur Untertanen deutscher Fürsten. Christlich hatten sie zu sein (siehe: Judengesetze) und vielleicht auch ein wenig deutsch zu können (erst in zweiter Linie). Es gab, tatsächlich, Mitteleuropäer, ein mehr oder minder buntes Gemisch auf einem kleinzelligen Länderteppich, und erst daß Napoleon über diesen so kräftig hinwegfegte, ließ Fragen nach dem Deutschen, also Nationales aufkommen. (Die Traumatisierung des deutschen Nationalismus durch die Idee der Grande Nation wäre ein hübsches, wenn auch unzeitgemäßes Untersuchungsthema.)

Wie jeder Nationalismus begann auch der deutsche mit einer Ahnensuche. Zunächst vergriff man sich an den untergegangenen Germanenvölkern, die den Römern zu schaffen gemacht hatten, eine verspätete Trotzreaktion auf den selbsternannten Cäsar Napoleon, von der uns nicht nur Hermannsschlachten blieben, sondern auch die Namen vieler Studentenverbindungen -, und dann, von Dahn abwärts, an Goten, Nibelungen und anderem Verflossenen. Interessanterweise waren die wirklichen „deutschen Vorfahren“ nicht gestaltungswürdig, erst wieder das gesetzte Mittelalter, und das selektiv: Ostlandreiterei, von Barbarossa angefangen, Kreuzzügliches und immer wieder Teutsches gegen Welsches, denn südwestlich lauerte die Gefahr, während der wüste Osten und der düster-heroische Norden selbstverständlich unser war.

Es braucht uns nicht zu wundern, daß die Ahnensuche schnell in den rassistischen Sumpf geriet, in den sich das Kleinbürgertum vor den Horden aus dem Osten flüchtete, die da zuhauf und angelockt von der Industrialisierung beispielsweise ins Ruhrgebiet strömten. Die billigen Arbeitskräfte, vor allem Polen und Tschechen, versuchten zwar tapfer, sich in Turnerbünden und Stammtischen zu assimilieren, aber der ansässige Mief fürchtete schon damals „die Gefahr der Überfremdung“ (Treitschke), und allmählich wurde das Deutsche mit „Blut und Boden“ definiert, Abstammung und Ansässigkeit. Obskure Philosophien (welche denn sonst?), Blond-Blauäugiges hatte Konjunktur, und auch die später obligatorischen Schädelmessungen und Typologien entstammen dem letzten Drittel des letzten Jahrhunderts.

Im deutschen Kaiserreich fand der deutsche Mief wenig Gunst. Wer Steuern zahlte, also verwendbar war, wurde großzügig eingebürgert, und die deutsche Seele hielt sich an die „Germanen-Bibel“, Bestseller von 1904-12, Motto: „Den Deutschen unter den Deutschen“. Erst mit dem Ersten Weltkrieg, als der Kaiser „nur noch Deutsche“ kannte, wurde dem rassistischen Affen großzügig Zucker gegeben. Mit seinen Stammtischtugenden kroch er gehorsam vor die Propagandakarre, und als deutsches Wunder ließe sich noch erwähnen, daß durch den „grauen Rock“ aus dem bisherigen Slavenpack ebenso schnell gute Teutonen wurden wie aus dem bisher blonden Engelland das (welsch-)perfide Albion. Nietzsches „Definition der Germanen: Gehorsam und lange Beine“ war ernst geworden.

Blut und Boden, später nur noch Blubo genannt, sind seither Definitionskriterien des Deutschen, von einigen Sekundärtugenden umrankt, der deutschen Treue, Ordentlichkeit, Sauberkeit, Gründlichkeit, Bescheidenheit, also dem Wesen, an dem die Welt genesen sollte. Alles zusammen ist zwar sehr schön, aber nicht präzisierbar, auch bei aller deutschen Bescheidenheit. Sprache und andere Tugenden sind lernbar, Boden ersitzbar - zeigen es nicht die Eigenheimpolacken im Pott? -, also blieb als letztes, einziges Kriterium der ganz besondere Saft, nachzumessen, nachzuweisen. Und dabei sind wir geblieben: „Deutsch ist das deutsche Blut“, wie Himmler so schön gesagt hat, „das Blut der deutschen Ahnen, das durch unsere Adern strömt.“ Das war zwar schon bei einigen aus seinem Förderkreis etwas verdünnt (bei Kasulewski in Bielefeld beispielsweise), doch da war „das deutsche Blut das Stärkere“. Traditionspflege

Die in einem Jahrhundert gewachsene Definition des Deutschen erlebte dann in der Kohlschen „Unzeit“ ihre staatstragende, mörderisch ernste Grundsätzlichkeit. Da aber die Unzeit, wenn schon nicht keine, so doch eine kurze war, und der deutsche Bart wesentlich länger, außerdem aber auch die der „deutschen Schande“ (für die wir uns nur gelegentlich schämen mußten, denn wir wurden ja auch geschändet, indem wir „Hitler zum Opfer fielen“, schon wieder Kohl), konnten „die demokratischen Parteien der Mitte“ nach „der Stunde Null“ dort weiterdeutschen, wo sie - durch das Ermächtigungsgesetz gezwungen - aufgehört hatten.

Da Bo-(den) etwas Mangelware geworden war, vom altöstlichen bis zu dem erhofften „neuen Lebensraum“ ebendort, blieb hinfort nur noch Blu-. Das einstige Einwanderungsland, in dem sich die verschiedensten Stämme jahrhundertelang festsetzten, mit seinen preußischen Hugenotten und slavisch durchseuchten SA-Männern, war hinfort eine Blutsgemeinschaft geworden, geteilt zwar, aber durch Hämoglobin verbunden. Der schmerzhafte Riß zu „unseren Brüdern und Schwestern da drüben“ hat soliden Schorf angesetzt, und so oft sehen wir den gar nicht mehr, denn wir stehen mit dem Rücken zum Osten, mit deutscher Treue den Honig westlicher Freiheit saugend und in Sonntagsreden nach drüben furzend.

Wir reden zwar von vergangenen Grenzen, aber wir meinen das Deutschland in seinen Grenzen von 843, die wir Adenauer und Stalin danken. Der nämlich hatte vom Zarentum den Panslavismus geerbt, mit dem der Zar Rußlands Hegemonie „für alle Lebensbereiche“ begründete, „wo Slaven heimatlich lebten“, Wenden und Sorben inbegriffen, rekonstruiert aufgrund von Ortsnamensforschung. Aus zentraleuropäischer Sicht war somit der Panslavismus unter der Führung eines Georgiers erfolgreicher als der Pangermanismus mit seinem ostischen Führer. Aus deutscher Sicht, zum Trost, sind wir dafür wieder wer. Aber wer und wieder?

Die kleine Republik gerierte sich als Alleinerbe des Deutschen Reiches, mithin alles Deutschen, und das half ihr im ersten Teil ihrer Geschichte als Einwanderungsland. Zuhauf kamen schließlich die Brüder und Schwestern von drüben, aus dem Baltikum, aus Schlesien, dem Böhmerland und der Ukraine, und die alten Stammes- und Sprachstrukturen weichten unbemerkt auf. Bundesdeutsche wurden sie alle, die mit der alten und die mit der neuen Heimat, und aus den vielen Dialekten wurde durch Abschleifung und Medienabstumpfung eine Einheitssprache.

Der mit der deutschen Geschichte untrennbar verbundene Regionalismus ist Vergangenheit. Nur Alte wollen heute noch Hessen, Schwaben oder Sachsen sein (mit Ausnahme der Bayern, aufgrund ihrer dubiosen Vorfahren vermutlich), und der seltsamerweise zuerst von Halblinken beschworene Heimatbegriff beschränkt sich auf Ortsnamen. „Wo kommen Sie her?“ unseres Kanzlers ist eine Adressenfrage, und wir sind ja auch innerhalb unserer Republik gehörig mobil geworden. Ein neues Deutschland ist entstanden, gewohnt an die Grenzen von 843, mit Einheitsarchitektur, -kunst, -küche und -stammtischen. Gelegentlich wird die alte Vielzelligkeit moniert, resignierend von rechts, als Protestgeste von links, aber sie ist fern wie die Steinzeit. Auch die Vertriebenen, wie sie sich selbst nennen, fallen nur auf, wenn zu Pfingsten der heilige Ungeist über sie kommt und sie ihre Versandhaustrachten anlegen. Derlei haben „Eingesessene“ nicht nötig, lassen sie in den Heimatmuseen, und sonst leben sie alle unauffällig als Deutsche, als anämische Blutsgemeinschaft.

Die neue Gelassenheit scheint allerdings nur als dünne Humusschicht über dem alten Geröll zu liegen. Die spätere Einwanderungswelle hat es bereits hochgepflügt: Bei Türken und sonstigen Asylanten wird die von Zimmermann konstatierte „berechtigte Angst vor Überfremdung“ schrill, verwandeln sich Mustereuropäer wieder zur stinkenden braunen Masse.

Unsere integrative Kraft und Phantasie hält eben im Unterschied zu unserer Geopolitik doch an ihren Grenzen von 1937 fest, als die blutige Definition des Deutschen Gesetz wurde. Beutegermanen

Sie kommen aus dem Nichts. Sogar das Wetter hört im Fernsehen an Oder und Neiße auf, und wenn es sonst was zu berichten gibt, ist es nur, daß die dort höchst aufsässige Untertanen haben, kein Wunder bei dem Elend. Und, das erst so recht in letzter Zeit: Deutsche.

Wir staunen: Wurden die doch nicht alle vertrieben? Haben die Berufsvertriebenen 40 Jahre übertrieben oder haben sich ein paar Übersehene seither so karnickelhaft vermehrt, daß allein dieses Jahr gleich 50.000 aus Polen „heim“ wollen? Und wenn heim - von wo kommen sie? „Landsleute“ nennt sie unser Kanzler, denen wir unsere landsleutselige Hand entgegenstrecken sollen. Welches unserer republikanischen Länder kann er da gemeint haben - vielleicht doch Pommerland, von dem auch er weiß, daß dies abgebrannt ist?

Einfacher ist es auch nicht im Südosten, im Reich des ganz, ganz Bösen. Beispielsweise in Grossau, dem mittlerweile regierungsamtlichen Christian, wo der Pfarrer zweisprachig predigen muß: auf altsächsisch für die Sachsen, die's dort seit 700 Jahren gibt, dann in knorrigem Älplerisch für die „Landler“, die nach der Pest vor 250 Jahren aus Salzburg und der Steiermark als protestantische Vertriebene kamen. Acht Mille oder - Ceausescu kennt sich anscheinend auf dem freiwestlichen Bazar aus - demnächst 16 ist uns jeder Kopf wert. Aber wohin mit der Ware? Als Landsleute müßten wir die Sachsen an Honni liefern und die Landler an Österreich, das dafür knapp bei Kasse scheint. Gut, es gibt auch die Schwaben. Die wissen immer noch, wo sie hingehören Diaspora schärft die Erinnerung -, und wenn die Ulmer Schachteln wieder stromaufwärts kommen, werden wir schon ein paar zwischenzeitlich mit Gastarbeitern belegte Arbeitsplätze freimachen. Hinsichtlich der Elsässer könnte Kohl mit seinem Freund reden... Nein, so ist die Wendeformel von den Landsleuten wohl nicht gemeint.

Das wäre ja auch absurd, sowohl nach unserem republikanischen Landrecht landsässigen Türken gegenüber als auch historisch. Die Leute hatten ihr Land, in Siebenbürgen jahrhundertelang, und sie waren Untertanen (Staatsbürger) diverser Wojwoden, der Ungarn, der Türken, wieder der Ungarn und Rumäniens. Die sich vom deutschen Wahnsinn anstecken ließen, mußten gehen, die anderen konnten bleiben, ziemlich unbehelligt, bis sie durch die Politik der BRD eine interessante Schieberware wurden. Wozu sollte sie der devisenklamme Ceausescu in Ruhe lassen, wo er sie beim Schlußverkauf zu gehobenen Preisen loswerden kann? Wenn sie denn nun wirklich keine (auch) deutschsprachigen Rumänen sind, sondern BRD-Landsleute, wie der Kohl dampft. So wird Land frei, und die Leute ist man auch los.

Und bei Gorbi? Fast eine Million Deutsche schmachtet in seinem Völkerkerker und weiß es oft nicht einmal. Auch wir wissen kaum mehr, daß es einst zwei Sowjetrepubliken mit deutscher Amtssprache gab. Neustadt (Ukraine) und Wolgaland wurden erst „aufgelöst“ (Deutschsprachige nach Osten transportiert), als die Wehrmacht an ihren Grenzen stand. Ein paar Hunderttausend leben in Kasachstan - wollen wir die auch haben, umsonst oder gegen Cash? Regionale Sowjets haben sich schon in Moskau über die Touren deutscher Diplomaten beschwert, die deutsche Sowjetbürger zur Ausreise überreden wollen. Noch schweigt der Kreml - wartet er auf ein saftiges Angebot?

Überall wartet im Osten noch deutsches Stückgut auf Heimtransport. Das Prager Telefonbuch ist zwar nicht mehr, was es war, nämlich an deutschen Namen reicher als das Wiener, doch immerhin - wollen wir sie haben, auch wenn's keine Dissidenten sind? Oder sind die dann, als Kommunisten mit Deutsch als Zweit- oder (nach Russisch) Drittsprache wiederum Ausländer, gegen die wir ja was und sogar neue Gesetze haben?

Keine Angst. Unsere weise Regierung, um Formeln nicht verlegen, hat schon eine genau passende Gattungsbezeichnung gefunden: Ausländische Landsleute. Ländisch, Land ... seit Boden etwas verpönt ist (diesfalls auch der der Tatsachen), klingt das gut, und gemeint ist ja auch was anderes, das gute alte Blut. Teutonisches Beben

Da stehen wir also, wenn schon nicht vor der deutschen, so doch vor der Mainzer Frage, und wie üblich, ist das „Wolle -mer-se-reinlasse“ rein rhetorisch, da das Programm längst festgelegt ist. Immerhin eines, bei dieser Regierung, doch welches?

Genscherkohl sagt, man reagiere nur auf die Not der Landsleute, notgedrungen also. Doch die ist, wenn schon, nicht so neu wie unser Kaufrausch. Aber warum der, und so plötzlich und vehement?

Nein, es gibt keine vernünftige Erklärung, nur eine deutsche. Sie hat mit Blut und Boden zu tun, also unseren Hegemoniesehnsüchten. Beginnen wir mit der Tatsache, daß nicht nur im Osten Landsleute unter fremder Herrschaft und Sprache schmachten. Angefangen von den USA, die sich anno dunnemal nur mit einer einzigen Stimme, der eines vaterlandslosen Deutschen, für die englische Staatssprache entschieden, über Columbien, Brasilien, Chile, Brasilien und Paraguay kreuzquer über den Globus bis Südafrika - überrall Landsleute, oft schon der xten Generation. Wolle mer ...?

Natürlich nicht. Auf die sind wir stolz wie der Strauß auf seinen Strössner (und über Colonia Dignidad wird derzeit wieder angestrengt geschwiegen). Daß Deutsche in Neuseeland das Rockerwesen eingeführt haben, wird wie früher eine Koloniegründung berichtet, auch daß wir's mit Koks und Zuhälterei sogar in Florida zu was gebracht haben. Keine Schande, keine Scham: Harte Gangster, tolle Kerle waren ja schon die alten Pioniere. Und bei den Still-Fleißigen fördern wir den Erhalt ihrer deutschen Kultur. Blumenau in Brasilien, wo sie seit 1929 bei ihren Stammesritualen um Hakenkreuzfahnen tanzen und wo die hier nicht mehr tragbaren Eichmann, Mengele und Barbie zumindest vorübergehend ihre neue Heimat fanden, ist Bonn selbstverständlich Geld wert, nicht zum Freikauf, sondern zu weiterem Walten. Und wenn unsere Regierung mit den Goethe-Instutionen auch nicht immer einverstanden ist - in Südafrika müssen sie sein. Vielleicht tragen sie ja dazu bei, daß an unserem (mittlerweile) demokratischen Wesen einmal die dortige Welt genesen möge.

Unsere Nichtsehnsucht nach den Landsleuten in der frei -westlichen Welt erklärt auch unsere Gier nach denen aus dem Osten: Das auf seine Ausgangsgröße zurückgewachsene Reich zieht seine erträumte Fünfte Kolonie zurück. Der von Wilhelm II., Haushofer und Hitler gehegte Plan, „die Ostlanddeutshen, zwar fremder Herrschaft angepaßt, als Pioniere zur künftigen Erweiterung unseres Lebensraumes und unserer Industrie zu nutzen“ (Formulierung Himmler), ist historisch überholt und kann aufgegeben werden, schon aufgrund unserer Agrarüberschüsse. Die NATO rüstet zwar immer noch zur Ostlandreiterei, doch die findet nicht statt, da für die Industrie der Frieden per annum schon einträghöher ist als der ganze letzte Krieg, und das auch noch ohne Gefährdung der Produktionsanlagen. So sichert die militärische Schrottproduktion den Frieden, und die Ostgeschäfte laufen auch ohne Deutsche dort drüben allerbestens. Wir brauchen keine Fünfte Kolonne. Daß wir für sie zahlen, kann angesichts unserer nicht sehr feinen Zinspolitik gen Osten auch als eine Art Scontokulanz gesehen werden.

Aber warum dann gleich zurückholen? Das, zugegeben, hat nichts mit unserem deutschen Wesen zu tun, sondern wie Big Mac mit dem der BRD und ihrer auch in Moral unlösbaren Wertegemeinschaft. Erinnert Euch an Bitburg! In deutschem Boden liegt kein US-Soldat, auch nicht in Vietnam oder Cuba, und Carter mußte dem Iran die bei der verunglückten Geiselbefreiung angefallenen Leichen teuer abkaufen, zwecks Begräbnis in US-Scholle. Das gehört zur Glory: In Feindesland sei kein US-Knochen zu finden, und in Vietnam blieben viele treue Kollaborateure zugunsten nationaler Särge zurück. So halten wir's auch, doch angesichts unserer Müllprobleme und des vielen Kalks da drüben nur mit den Lebenden. (Ceausescu könnte uns doch auch undeutsche Knochen andrehen, und Urnen dürfen ja mitgenommen werden.) Blutsaugerei

Wie deutsch allerdings sind diese Landsleute, des Deutschen oft kaum mächtig (sprachlich und sonstig), oft mit fremdartigen Namen? Da bleibt uns dann nur der gute, alte Rassismus, trotz Grundgesetz und wegen Wiedervereinigung: Das Blut, der Ariernachweis in seinen Grenzen von 1937, denn mit Persern oder gar Indern wollen wir nichts zu tun haben, und wenn sie sich noch so sehr Arier nennen. So wird unter den „Westariern“ wieder emsig Ahnenforschung betrieben, denn wir neugermanischen Vampire schlürfen das gute deutsche Blut auch in homöopathischen Verdünnungen, bis hin zur Urgroßmutter. Kein Tröpfchen soll uns entgehen! War nicht außerdem immer schon das deutsche Blut „das Stärkere“?

Daher reagieren wir auch so sauer auf Falsifikate. Jede Woche wird von Germanenfälschungen berichtet, von Polen hauptsächlich, die sich eine deutsche Großmutter zulegten. Da wird kein Pardon gegeben - schließlich haben schon die Nürnberger Rassegesetze die Aufordung einer jüdischen Großmutter unter strenge Strafe gestellt. Wir wollen das gesamtdeutsche Blut (mit Ausnahme der „Brüder und Schwestern von drüben“, deren Zeigefingergesichter und fachliche Qualifikation uns allmählich nerven), aber das rechte, denn das wird vielleicht auch aus blutiger Dankbarkeit rechts wählen (daß die in Schleswig-Holstein angesiedelten Vertriebenen dies vergaßen, ist ein anderes, trauriges Kapitel).

Da stehen wir, Arme und Arsch offen für alles Fremde, sofern es deutsch ist - wir können nicht anders. Schließlich sind wir, schon aufgrund unserer derzeitigen Grenzen, die wahren Erben alles Deutschen. Die in unserem Konkurrenzstaat können zwar in unsere alten Lebensräume reisen und sogar z.B. 1968 nach Prag - marschieren, doch in unsere Wagenburg strömen die verlorenen Söhne und Töchter. Wir sind die besten Deutschen. Das ist uns was wert, so wie wir viele ECUs dafür geben, die allerbesten Europäer zu sein (am deutschen Zeigefinger allezeit erkennbar).

Sagt da wer was von Minderwertigkeitskomplexen? Zugegeben: Wir haben gerne bezahlt, Europäer werden zu dürfen, aber das hat sich ja auch ausgezahlt. Wir sind jedoch, und das muß in aller Deutlichkeit gesagt werden, weder die Zahlmeister der EG noch Allesaufkäufer im Osten. Wir kleckern nur nicht, außer im Sozialen. Wir haben's, denn wir sind (wieder) wer, wir können's uns leisten, die EG, die NATO und das Blut ohne Boden. Das besonders, denn Volk ohne Raum waren wir ja schon immer. Uns geht eben nicht nur beim Fußball Einigkeit und Recht und Freiheit über alles in der Welt, und deutscher als wir ist niemand dortselbst. Auch auf unseren Schecks soll man es lesen können: Wir sind die gesamtdeutsche Bundesrepublik in der westlichen Welt (weshalb wir von dort auch niemanden heimholen müssen).

Außerdem: Ohne das gute deutsche Blut wird der Osten bald noch verrotteter sein und unser bedürfen. Auch dies sollte bei unserer Heim-ins-Reich-Bewegung bedacht werden, und die von Türken befreite deutsche Wertarbeit wird sich dann in böhmischen Dörfern mit polnischer Wirtschaft noch besser absetzen lassen. Was wir mit Imperialismus und Nationalsozialismus nicht geschafft haben, wird unser Kapitalismus schon hinkriegen.