Einbruch im Dienste des Rechtsstaates

Die Volkszählung ist bundesweit praktisch abgeschlossen / Willkür der Behörden als Leitmotiv bei der Verfolgung der „harten“ VolkszählungsboykotteurInnen / Wohnungsaufbrüche und Kontopfändungen in Berlin / Erfolg in Bremen  ■  Von Benno Pilardeaux

Berlin (taz) - Jedesmal, wenn der Berliner Angestellte Helmut M. seine Wohnung im Berliner Bezirk Schöneberg verläßt, hat er ein flaues Gefühl im Magen. Nie kann er sich sicher sein, ob sein Domizil nicht noch einmal aufgebrochen wird. Die Einbrecher, die er fürchtet, klettern nicht über die Dächer, sie kommen auf Amtswegen. Grund: Seit fast eineinhalb Jahren weigert sich der knapp 50jährige Vater von drei Kindern, einen Fragebogen auszufüllen - den zur Volkszählung. Die Angst vor dem Überwachungsstaat sitzt auch bei einem dutzend Leuten tief, die sich an einem warmen Augustabend zum sommerlichen Erfahrungsaustausch im Berliner Alternativzentrum Mehringhof einfinden. „Die Vobo-Hardliner tagen“, neudeutschelt ein Vorübergehender durch den Hof des ehemaligen Fabrikgebäudes. Eine bunte Mischung aus Studenten, Arbeitslosen und Büroangestellten versammelt sich dort in der Gartenkneipe. Der klägliche Rest der einst mächtigen Berliner Boykottfront. Kaum jemand von ihnen ist bereit, seine Identität preiszugeben, das Mißtrauen ist groß. An Gesprächsstoff mangelt es trotzdem nicht an diesem Abend. Reihum schildern die Betroffenen „ihren Fall“. Erfahrungswerte im Umgang mit den Behörden stehen zur Debatte, in der sich gespannte Aufmerksamkeit und lebhafter Streit abwechseln. Wie steht es heute um die Volkszählung und deren „harten“ BoykotteurInnen?

Zwar sind die Erhebungen zur Volkszählung nach Auskunft eines Sprechers des Statistischen Bundesamtes bis auf Hamburg abgeschlossen, Zwangsgeldverfahren also damit hinfällig geworden; die Verfolgung der Zensusverweigerer mit Bußgeldverfahren, die vom Abschluß der Volkszählung unabhängig sind, hingegen noch lange nicht.

Faschistoider

Durchmarsch

Während in Bremen, wo überhaupt keine Bußgeldverfahren eingeleitet wurden, die „harten BoykotteurInnen“ auf ganzer Linie erfolgreich sind, wird in Berlin der „faschistoide Durchmarsch“ (ein Boykotteur) durchexerziert. Der „konsequente Kampf gegen den Überwachungsstaat“ fordert seinen Tribut. So läßt das Berliner Finanzamt inzwischen zahlungsunwilligen BoykotteurInnen die Konten pfänden. Bei der Anwendung des noch „mildesten Mittels“ (der Sprecher des Berliner Innensenators, Heinz) wurden Behörden rechtsbrüchig. Da gab es jenen Erlaß des Berliner Finanzsenators Rexrodt vom Juni '88, der die Eintreibung von Zwangsgeldern über die Finanzbehörden ermöglichen sollte. Bankkonten und sonstige Vermögen der BoykotteurInnen sollten mit Hilfe der Steuererklärungen ausfindig gemacht werden. Kaum einen Monat später mußte sich der Senator dem öffentlichen Druck beugen. Bis dahin hat die ihm unterstehende Behörde allerdings über vierzigmal das Steuergeheimnis gebrochen.

Schreibmaschiene

gepfändet

In letzter Zeit häufen sich auch Fälle, in denen Abgesandte der staatlichen Behörde ohne Vorwarnung private Wohnungen aufbrechen, um dort pfändbares Hab und Gut auszumachen. „Auf dem Küchentisch meiner Wohnung lag ein Papier, auf dem geschrieben stand, 'Niederschrift über fruchtlose Pfändung‘, offensichtlich eine Hinterlassenschaft des Gerichtsvollziehers, der unverrichteter Dinge wieder abziehen mußte“, berichtet Zensusverweigerer Helmut aufgeregt. Ein anderer „Bruch“ der amtlichen Täter war nicht „fruchtlos“. Sie kassierten eine elektrische Schreibmaschine, um das anstehende Bußgeld zu begleichen. Knapp einhundert Mark kostet das amtliche Knacken der Wohnungstür. „Türöffnungsanordnung“ steht im Beamtendeutsch auf der Rechnung, die am Tisch herumgereicht wird.

Wieviele harte BoykotteurInnen derzeit noch zur Staats räson gebracht werden sollen, läßt sich an der Zahl der Bußgeldbescheide ablesen. Als rigoros erweist sich dabei das CDU-regierte Hessen, wo nach Auskunft des Sprechers des Kasseler Regierungspräsidenten, Werner Neusel, derzeit ganze 28.000 Bußgeldverfahren im Gange sind. An die 40.000 sollen es noch werden. „Zwei Jahre wird es wohl dauern“, so der Sprecher, bis sich das Verfahrensdickicht lichtet. Über 3.000 Bußgeldverfahren sind es in Schleswig-Holstein, 2.000 in Niedersachsen und 100 im Saarland. Bei dem in Hamburg anhängigen, zunächst gigantisch wirkenden Berg von fast 120.000 Zwangsgeldverfahren handelt es sich dagegen um reine Behörden-Schaumschlägerei. Spätestens im Oktober, mit Abschluß der Volkszählung in der Hansestadt, wandern diese in den Papierkorb.

Offensichtlich häufen sich die Berichte, wonach eingeleitete Verfahren von den Behörden kommentarlos zurückgenommen werden. In manchen Bundesländern ist die Verfolgung von VolkszählungsboykotteurInnen mit Bußgeldverfahren nie erwogen worden, so in Hamburg etwa. Indes fährt Berlin, wo derzeit noch etwa 4.500 Bußgeldverfahren durchgezogen werden, die harte Linie. Wer „falsch parkt, wird ja schließlich auch zur Kasse gebeten“.

Eine „Amnestie“ für VolkszählungsboykotteurInnen sei auf Landesebene aus „rechtlichen Gründen“ nicht möglich, meint der ehemalige Datenschutzbeauftragte und jetzige Innenminister Schleswig-Holsteins, Bull. Dies könne nur durch ein Bundesgesetz geschehen. Derlei Reden stoßen in der Vobo-Tischrunde auf Unverständnis. Der „Gleichheitsgrundsatz wird mit Füßen getreten“, die „Verhältnismäßigkeit der Mittel nicht gewahrt“. „Letztlich geht es vor allem darum, auf das rigorose und willkürliche Vorgehen der Behörden aufmerksam zu machen“, befindet eine Boykotteurin. Aber teilweise macht sich auch Resignation breit. Ständig lauert eine Widerspruchsfrist, die es nicht zu verpassen gilt. „Will man in Urlaub fahren, organisiert man sich am besten jemand, der auf die Wohnung aufpaßt.“ Der „weiche Boykott“ hat die einstige Bewegung zwar gespalten, darin ist sich die Vobo-Gruppe einig. „Sauer“ ist man allerdings nicht auf diejenigen, die den Bogen dann doch ausgefüllt haben. Mit dem Zerbröckeln der einstigen Boykottfront werde es allerdings immer schwieriger, sich staatlichen Repressalien entgegenzusetzen. So zieht es denn einen Aktivisten immer mehr fort vom ständigen Ärger mit aufgebrochenen Wohnungstüren und nervenaufreibendem Papierkrieg. Fort nach Italien - wo „niemand auf die Idee einer Volkszählung käme“.