I W A N G O L L

■ O D E A N B E R L I N

Plötzlich stehst du Kopf, / Dein Auge aus Asphalt, Prolete werfen es in die Scheiben des Jahrhunderts, / Und dein anderes, blau, blüht über hängenden Gärten. / Rote Rotte der Untergrundbahn / Flieht zu lieblichen Quellen der Nachwelt / Aller Stein zerfließt im Strahle des Menschen.

Nichts ist irdischer aus den Poren des Sterns geschwitzt / Als Berlin, du Bar des Planeten. / Wie ich Urwelt spüre, / Unterwelten entsteigt der Autobus und der Auerochs, / Hörner voll elektrischer Diamanten, / Hirne, braun gebacken bei Kempinsky.

Fett befingerter Prophet / Über preußischblauen Postbeamnten, / Bruder: ach es schwankt der Laternenpfahl, die Himmelsache / Klappt dir den Zylinder zu. / Hoch im Kino der galanten Könige / Sieht man ganz Venedig und Veronese.

Trinkt Kultur! Kultur! Kultur! / Bis zu den Negern dringe die unkende Lüge. / Kleine Mädchen haben noch dünne Beine, / Doch Du schattig Paradies der Promenadenbänke, / Deine Frühlinge aus Tüll und Lindenblüten / Liebt der Bordellherr.

Marmorn muß das Kolossale strotzen! / Türme gibt es nicht, Genies noch Kirchen: / Aber die Quadrate der Bank, die Buden von Moabit: / Fast ägyptisch / Wirkt das ewige Standbild des Schutzmanns / Bei den Stollwerkautomanten.

Da entquillt dem Schnaps-Sumpf mein Prolet! / Freiheit! müht das müde Maul des Hungers. / Freiheit! zirpt die ferne Artillerie. / Freiheit! in Kolonnen des Sturmschritts. / Schmilz, du Krempel, gießet Bleisoldaten! / Hymnen schreibt der rote Redakteur!

Und die Orgeln fühlen es: O Susanne! / Heilige Rosen quellen im Landwehrkanal. / Ferne funkt der Eiffelturm dem Spandauer Zweifelturm / Alles Gold der Mark und Marken zerrann zu Freibier, / Lockernd den Asphalt des Mob - / Nun Berlin, du giftige Nessel am Kreuzweg des Ostens, / Dorre an deinem Staube, bröckle Vergessenheit, / Stirb, um nicht zu verrecken, Berlin!

Iwan Golls „Ode an Berlin“ erschien 1920 in der Zeitschrift 'Die Erde‘ (Jahrgang 2), ein bitteres Pamphlet gegen den schon vergessenen oder mystifizierten Weltkrieg. Ausgewählt von

Michael Trabitzsch