Die große Beichte der Nazi-Ärzte

■ Robert J. Liftons „The Nazi Doctors“: Protokoll psychotherapeutischer Gespräche zwischen einem Analytiker der Siegermacht mit seinen Kriegsverbrecher-Patienten

Christian Pross

Rechtzeitig zum Ausklang des großen Medienspektakels um den „Todesengel von Auschwitz“, Mengele, ist jetzt in den USA das passende Buch auf den Markt gekommen: The Nazi Doctors von Robert J. Lifton. Lifton, prominenter Psychiater und Psychohistoriker sowie führendes Mitglied der amerikanischen „Ärzte warnen vor dem Atomkrieg“ (Physicians for Social Responsibility), hat sich bisher mit seinen psychologischen Studien an Überlebenden von Hiroshima, Opfern von Gehirnwäsche in der Volksrepublik China und Veteranen des Vietnamkrieges einen Namen gemacht. Seine Kenntnisse über das psychische Verhalten unter „Extrembelastungen“ prädestinierten ihn zu dieser neuen Arbeit. Vor zehn Jahren brach Lifton nach Deutschland auf, ausgestattet mit einem finanziellen Apparat (allein acht amerikanische Stiftungen waren beteiligt) und einem Heer von Hilfskräften, Interviewern, Übersetzern etc. - von dem US -Forscher hierzulande nur träumen können. Das weckt gewisse Erwartungen, zumal Lifton sich zum Ziel setzt, dem Phänomen Mengele allumfassend psychologisch, soziologisch und historisch auf den Grund zu gehen. Sein Ansatz lautet schlicht und einfach: Die beste Art und Weise, etwas über die Nazi-Ärzte zu erfahren, ist, mit ihnen zu sprechen.

Etwas großspurig verkündet der deutsche Verleger (Klett -Cotta), es sei die „erste Gesamtdarstellung der Rolle der Mediziner im Dritten Reich“, und behauptet, Lifton habe „Tausende von Prozeßprotokollen durchgesehen, die ihm, dem amerikanischen Wissenschaftler, leichter zugänglich waren als deutschen Kollegen“. Die Protokolle, die damit gemeint sind, wie zum Beispiel die Protokolle des Nürnberger Ärzteprozesses oder des Prozesses gegen den Euthanisiearzt Werner Heyde, sind deutschen Wissenschaftlern sehr wohl zugänglich. Die Wahrheit ist nur, daß Lifton diese Protokolle kaum oder nur sehr oberflächlich gelesen hat, sonst wären ihm nicht viele Ungenauigkeiten unterlaufen und er hätte nicht so häufig aus der anglo-amerikanischen Sekundärliteratur statt aus deutschen Originalquellen zitiert. Auf das Studium jener kam es ihm auch gar nicht so sehr an, denn „in den Wohnzimmern“ der Naziärzte - so Lifton - spielte sich die eigentlichr Forschungsarbeit ab. Aus den Gesprächen mit diesen leitet er die wesentlichen Grundthesen seines Buches ab.

Als „unangenehm bis herzlich“ schildert Lifton die Atmosphäre während der Interviews. Obwohl zeitweise beschämt und peinlich berührt, sich überhaupt auf solche Gesprächspartner einzulassen, entdeckt er ihre sympathischen und menschlichen Seiten. Zustandegekommen waren die Begegnungen mit Hilfe des Leiters der Forschungsstelle für Psychopathologie und Psychotherapie am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München, Prof. Paul Matussek, der die Probanden um ein Gespräch mit einem „prominenten amerikanischen Psychiater“ bat, der die „Belastungen und Konflikte“ von deutschen Ärzten während des Nationalsozialismus untersuchen wolle. Die Kooperationsbereitschaft war erstaunlich hoch: 70Prozent der angeschriebenen 41Probanden stellten sich für ein Gespräch zur Verfügung. Offenbar fühlten sie sich geschmeichelt ob des Interesses eines so berühmten amerikanischen Kollegen, und sie sahen „eine Gelegenheit“, ihre „postnazistische Identität“ darzustellen, denn ihre nicht eingestandenen Schuldgefühle drängten sie dazu, sich „mitzuteilen“. So ist Liftons Buch das Protokoll einer Beichte, man möchte fast sagen: das Protokoll psychotherapeutischer Gespräche, die ein Analytiker der Siegermacht mit seinen Kriegsverbrecher -Patienten führte. Inwieweit nicht schon allein diese Konstellation den Gesprächsinhalt verzerrte - ganz abgesehen davon, daß zwischen Tat und Beichte mehr als vier Jahrzehnte liegen -, ist eines der vielen Fragezeichen, die man hinter Liftons Buch setzen muß.

Er habe „mit ihnen (den Naziärzten, d.V.) gefühlt“ und seine „Impulse zu aggressiv-moralischer Konfrontation“ der wissenschaftlichen Objektivität willen unterdrückt (S. 11, S. 501). Nur ein Arzt brach das Gespräch nach kurzer Zeit ab, die meisten zeigten sich geradezu willfährig gegenüber dem amerikanischen Kollegen.

Liftons Begegnung mit Dr. B., „dem menschlichen Wesen in SS -Uniform“ (aus Hermann Langbeins Buch Menschen in Auschwitz unschwer als der Auschwitzer Lagerarzt Dr. Hans Münch zu identifizieren) ist das längste und am ausführlichste analysierte Interview, sozusagen das Paradestück des Buches. Dr. B., dem es gelang, sich vor den Selektionen an der Rampe zu drücken, der vielen Häftlingen das Leben rettete, der in einer rechtlosen Umgebung versuchte, es allen recht zu machen, biedert sich Lifton an. Er offenbart ihm sein Innerstes, beispielsweise einen ständig wiederkehrenden Traum mit einem jüdischen Schulfreund, den er bei seiner Ankunft in Auschwitz unter vorbeimarschierenden Häftlingen wiedererkannt zu haben glaubte. Vertrauensvoll berichtet er aus dem Innenleben der SS, von den Sauforgien, in denen man seine gelegentlichen moralischen Anwandlungen ertränkte. Ausharren, um Schlimmeres zu verhüten (eines von den in Nürnberg Angeklagten häufig benütztes Argument), rechtfertigt er gegenüber Lifton seine Teilnahme am Unternehmen Auschwitz. Im Verlauf der über Monate sich hinziehenden Interviews wird B. zum Beispiel von seiner wachsamen Frau dazu gedrängt, doch nicht so gefällig zu sein. Daraufhin ändert sich sein Ton, er bekräftigt seinen Glauben an das Gute im Nationalsozialismus, rechtfertigt die Politik gegenüber den Juden und versucht, seine früheren Aussagen zu relativieren. Außerdem schwärmt er von seiner engen Freundschaft mit Mengele, den er als Idealisten, leidenschaftlichen Wissenschaftler und „anständigsten Kollegen“ in Auschwitz bewunderte.

Nach einem Kapitel über Mengele selbst folgt eine Wiedergabe der Passagen, die über den leitenden Lagerarzt Dr. Eduard Wirths aus Hermann Langbeins Buch Menschen in Auschwitz nacherzählt sind. Aus dessen massiven Identitätskonflikten er arbeitete teilweise mit Langbein (der ein politischer Häftling war) und der illegalen Häftlingsorganisation zusammen - und den Aussagen des Dr. B. leitet Lifton sein Modell von der Persönlichkeitsspaltung der NS-Ärzte ab. Er nennt es „doubling“. Die SS-Ärzte in Auschwitz trugen laut Lifton zwei Persönlichkeiten in sich, die ursprüngliche pränazistische Persönlichkeit des Arztes und Heilers, des sorgenden und liebenden Familienvaters, und die „Auschwitzpersönlichkeit“ des skrupellosen Experimentators, des Massenmörders. Lifton meint, es handele sich hier nicht um die klassische Persönlichkeitsspaltung der Neurotiker oder Schizophrenen. Der SS-Arzt habe eine Art Doppelgänger in sich geschaffen, der die Arbeit des Tötens übernommen habe. In der mörderischen Welt von Auschwitz habe der Mensch SS-Arzt funktionieren können, indem je nach Bedarf die eine in Verleugnung der anderen Persönlichkeit agierte. Als nach dem Krieg die pränazistische Persönlichkeit, d.h. das Gewissen mit der „Auschwitzpersönlichkeit“ und ihren Verbrechen konfrontiert wurde, sei die Verleugnung und damit der durch das „doubling“ errichtete prekäre innerpsychische Status quo zusammengebrochen, laut Lifton die Ursache für den Selbstmord vieler NS-Ärzte.

Das Erklärungsmodell Liftons klingt zunächst sehr eindrucksvoll und hat als psychopathologische Studie der Fälle Hans Münch und Eduard Wirths seinen Platz in der wissenschaftlichen Literatur verdient. Wo Lifton es zur universalen Theorie der NS-Verbrecherpersönlichkeit erhebt, wird das Bild schief. Das zeigt sich an den anderen Fallbeispielen, die er heranzieht und in sein „doubling„ -Schema zu zwängen versucht. Zum Beispiel Mengele, der offenbar kaum in seiner Persönlichkeit gespalten war und seine Auffassungen, wie seine jüngst bekannt gewordenen Tagebücher zeigen, nach dem Kriege ungebrochen weiter vertrat (ganz ähnlich wie Klaus Barbie), oder Karl Brandt, dem Technokraten und Organisator der Euthanasie, der im Nürnberger Ärzteprozeß nicht die leisesten Anzeichen von Zweifeln an seinem Tun äußerte.

Der Fall Brandt, der als gesundheitspolitischer Berater Adolf Hitlers wie kein anderer die Nähe zwischen normaler medizinischer, wissenschaftlicher Routine und Verbrechen demonstriert, wird von Lifton extrem kurz und falsch dargestellt. Er nennt ihn den „anständigen Nazi“. Teil seines „doubling“ sei angeblich seine „hohe ethische Einstellung“ gewesen sowie seine Bewunderung für Albert Schweitzer. Er beruft sich dabei auf das sehr fragwürdige Buch des französischen Autors Philip Aziz, Doctors of Death, ein im Stil eines Thrillers geschriebenes Werk, das keine einzige Quellenangabe enthält.

Es ist verwunderlich, daß Lifton kaum auf die reichhaltigen Dokumente aus dem Nürnberger Ärzteprozeß zurückgreift. Die Verhörprotokolle und die persönlichen Erklärungen der Angeklagten enthalten sehr viel aufschlußreicheres Material über die Motive der Täter, als es die oral history zu geben vermag.

Jeder, der versucht hat, ehemalige SS-Leute und Nazis zu interviewen, weiß, worauf man sich einläßt. Man sitzt gemütlich zusammen beim Kaffee und kann sich dem Gebot der Höflichkeit nicht entziehen. Der Befragte tischt seine über Jahrzehnte gegenüber sich, gegenüber Staatsanwälten, Richtern und den eigenen Kindern einstudierten Legenden auf. Sie sind Teil seiner selbst geworden, und kaum ein geschulter Analytiker vermag diesen Panzer zu durchbrechen. Der einzige Gewinn, den man aus solchen Interviews ziehen kann, ist der Nervenkitzel, den Nazi leibhaftig vor sich sitzen zu haben. An vielen Stellen des Buches spürt man derartige Gefühle Liftons. Andere haben gezeigt, daß man bei diesem Thema die Ebene der Distanz des wissenschaftlichen Beobachters verlassen muß: beispielweise die englische Journalistin Gitta Sereny, die dem Kommandanten von Treblinka, Franz Stangl, in einer dramatischen Begegnung ein Geständnis entrang, oder der französiche Regisseur Claude Lanzmann, der in seinem Film Shoa in bewußter Indiskretion SS-Leute mit einer versteckten Videokamera interviewte. Lifton dagegen scheint mit der Wahrung der Anonymität einen Pakt mit seinen Gesprächspartnern eingegangen zu sein, der ihm die Hände bindet. Zur Erhellung der NS-Verbrechen, der Machtstruktur, der inneren Verflechtungen zwischen Forschungsinstituten, Universitäten, Vernichtungszentren und KZ-Labors gehören auch Namen, Orts und Zeitangaben.

Es ist Liftons Methode, politische Zusammenhänge zu psychologisieren. Indem er beispielsweise den Widerspruch zwischen Heilen und Vernichten („healing-killing conflict“) in die Psyche der NS-Ärzte hineinprojiziert, unterschlägt er seine sozialpolitische Funktion, die darin bestand, den höherstehenden Volksgenossen alle nur erdenkliche ärztliche Behandlung und Pflege nach neuestem Erkenntnisstand angedeihen zu lassen, während man die „Minderwertigen“, das Subproletariat der Asozialen, Fürsorgezöglinge, Prostituierten, sogenannten Schwachsinnigen, Alkoholiker, Geisteskranken sowie die „rassisch minderwertigen“ Juden, Zigeuner, Russen und Polen sterilisierte und umbrachte. Carl Schneiders Doppelrolle als führender Euthanasiegutachter und -forscher und als Förderer damals moderner Behandlungsmethoden wie Arbeits- und Elektroschocktherapie war nicht Ausdruck seines „psychiatrischen Idealismus“, wie Lifton meint (S.122-123), sondern angewandter selektiver Sozialpolitik.

Es fällt auf, daß Lifton die Nachkriegskarrieren der NS -Ärzte völlig ausklammert, zum Beispiel die von Mengeles Auftragsgeber Otmar von Verschuer, der bis heute international geehrt und zitiert wird. Auch verleugnet er die inzwischen bekannte Tatsche, daß einige der deutschen Luftwaffenärzte, die an Menschenversuchen in den KZs beteiligt waren, nach 1945 in amerikanischen Diensten weitergearbeitet haben (S. 456). Das macht ihn unglaubwürdig, da er den Anspruch erhebt, ein zeitübergreifendes Phänomen zu analysieren, wenn er zum Beispiel unser Jahrhundert das „century of doubling“ nennt und die ethischen Abwege der Wissenschaft im Nuklearzeitalter beschwört (S. 464-465, S.500-504).

Liest man die Tagebücher, Briefe und Artikel von NS-Ärzten, die zur Zeit des Geschehens geschrieben wurden, findet man darin wenig Idealismus, dagegen viel kleinliche Gier nach Posten, Geld und Privilegien, eine Mischung aus Neid, Selbstüberschätzung und Verachtung der „Minderwertigen“. Lifton, der solche Quellen kaum verwendet, wollte über seine Interviews die Normalität der NS-Täter, die „Banalität des Bösen“ analysieren, er wollte auf den potentiellen Nazi in jedem Menschen hinweisen. Was dabei herausgekommen ist, ist eine Apologie: Nach Lifton waren die Naziärzte verblendete Idealisten im Glauben an eine Heilung des kranken Volkskörpers, tragisch fehlgeleitete Gelehrte, Dr. B., Menge und Co. als faustische Gestalten, von Mephisto Hitler zu ihren Mordtaten im Dienste einer höheren Sache verführt. Der Leser nimmt teil an ihrem Schicksal, fast wird er dazu gedrängt, Mitleid zu empfinden. Den vielen Legenden über die Nazis hat Lifton eine neue hinzugefügt.

Dies ist die gekürzte und leicht veränderte Fassung einer Rezension, die Mitte September erscheint in: Feinderklärung und Prävention, Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 6, 216 S., 24 DM

Robert J. Lifton: The Nazi Doctors: Medical Killing and the Psychology of Genocide. New York, Basic Books, 1986, 561Seiten. Die deutsche Ausgabe erscheint im September 1988 unter dem Titel: Ärzte im Dritten Reich. Bei Klett-Cotta, ca. 700S., 48 DM