Plan erfüllt: Siebenmal abgetrieben

■ In der Sowjetunion findet Geburtenkontrolle vor allem über Abtreibungen statt / Im Durchschnitt muß eine Sowjetfrau sieben Abtreibungen über sich ergehen lassen / Pfusch und katastrophale hygienische Zustände in den Kliniken / Sexualaufklärung gibt es kaum und Verhütungsmittel sind eine Rarität / Von Larissa Aganbegjan

Aus tiefer Bewußtlosigkeit wachte ich auf. Bei der Fehlgeburt hatte ich sehr viel Blut verloren, wie viel, wie lange, wußte ich nicht mehr. In der Luft lag ein graublaues Flimmern, auf dem gegenüberliegenden Dach gurrten Täubchen. Die Mainacht wollte nicht dunkel werden, obwohl hier in Moskau das Phänomen der Petersburger „Weißen Nächte“ offiziell nicht existiert. Eigentlich fühlte ich mich geborgen: ich lag in einem sogenannten „rodil'nyj dom“, einem „Geburtshaus“, wie in der Sowjetunion die gynäkologischen Kliniken heißen. Die Einrichtung war mir von Kind an als Begriff vertraut, jedoch nicht von innen bekannt. In den folgenden Wochen sollte sie mir zur zweiten Welt werden - und zum Gefängnis: denn wer eine sowjetische Klinik ohne Unterschrift des behandelnden Arztes verläßt, handelt schon kriminell und verstößt gegen das polizeiliche Melderecht. Schon in den nächsten Tagen wurde mir allerdings die Ironie der Bezeichnung „Geburtshaus“ deutlich: es handelte sich nämlich um ein „Anti-Geburtshaus“. Nur der oberste Stock war mit Wöchnerinnen belegt, alle übrigen Etagen quollen über von Frauen mit Entzündungen und Komplikationen in der Folge von verpfuschten Abtreibungen. Sogar die Korridore waren mit Liegen belegt. Wohlgemerkt: hier handelte es sich nicht um eine Abtreibungsklinik im eigentlichen Sinne, sondern um eine Klinik für die Opfer von Abtreibungskliniken und häuslichen Abtreibungen.

Heute, 6 Jahre später, in der Augustnummer der fortschrittlichsten sowjetischen Wochenillustrierten 'Ogonjok‘, lese ich die Zahlen: 25 Prozent aller Schwangerschaftsunterbrechungen der Welt werden nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der Sowjetunion vorgenommen - einem Staat, der nur 5 bis 6 Prozent der Weltbevölkerung stellt. In den sowjetischen Städten werden nach offiziellen Schätzungen 70 bis 80 Prozent aller Erstschwangerschaften durch eine Abtreibung beendet, auf dem Lande sind es 90 Prozent. Die überwiegende Mehrzahl davon wird von medizinisch nicht ausgebildeten Personen oder von den Frauen selbst vorgenommen. Die Geburtenkontrolle reduziert sich - so der Autor dieses Artikels, Andrej Popow

-„bei uns lediglich auf die Durchführung von Abtreibungen“.

Wie erklärt sich diese Praxis in einem Land, das in den 20er Jahren führend war im Bereich der Sexualaufklärung? Auf historischer Ebene hat der gegenwärtige Zustand in der patriarchalischen stalinistischen Familiengesetzgebung des Jahres 1936 seine Wurzeln. Ein absolutes Abtreibungsverbot wurde zu jener Zeit durch die Einstellung jeglicher Erforschung und Propagierung von empfängnisverhütenden Mitteln ergänzt: das Land brauchte schon in dieser Vorkriegszeit Arbeitskräfte und Soldaten. Kein Wunder, wenn man bedenkt, daß der Stalinsche Terror und die Kollektivierung der Landwirtschaft 20 Millionen Menschenleben kosteten. Erst im Jahr 1968 wurde die Abtreibung auch ohne medizinische Indikation wieder erlaubt. Zahlen allein ergeben jedoch noch kein vollständiges Bild. Auch die Bedingungen, unter denen abgetrieben wird, sind miserabel. In den Kliniken der modernen Sowjetunion ist die Absaugmethode weitgehend unbekannt. Die schmerzstillenden Mittel reichen bei weitem nicht für alle.

Damals, vor 6 Jahren, fand ich es ganz normal, daß keine von uns Besuch von unseren Männern, Freunden oder Verwandten bekommen durfte. Es erstaunte mich nicht, daß die Mütter ihre Neugeborenen erst nach einem Tag und dann auch nur für Minuten zu sehen bekamen, und daß diese Kinder dann wie Insektenpuppen gewickelt waren. Dies, so wurde gesagt, sei nötig, wegen der „Hygiene“. Überrascht war ich jedoch von den Methoden, mit denen die „Hygiene“ hier unterlaufen wurde. Nachts entspann sich eine fröhliche Geschäftigkeit: die Frauen pendelten kleine Nachrichten aus dem Fenster an ihre Nächsten, die auf der Straße warteten. Heraufgezogen wurden nicht nur die Antworten, sondern auch Körbchen mit frischem Obst - auf der Station eine Rarität. Ein weiteres Mittel, das strenge Reglement zu umgehen, war in diesem selbst vorgesehen: Geld wurde offenbar für antiseptisch gehalten und durfte deshalb ans Bett mitgenommen werden. Damit konnten wir die Schwestern bestechen, nach und nach all die kleinen Habseligkeiten - von Socken bis zu Nachtjäckchen und Büchern - zurückzubekommen, die wir bei der Einweisung aus „hygienischen Gründen“ hatten abliefern müssen. Die Realität der Hygiene: da war die Toilette - eine einzige auf einem Stockwerk für 80 unterleibskranke Frauen, auf deren Fußboden der Urin bisweilen 10 cm hoch stand. Da waren die blutigen, eitrigen Mullbinden neben der Wartebank vor dem Untersuchungszimmer. An Verbandszeug fehlte es im allgemeinen, ebenso an Antibiotika, an Bettüchern, an allem. Die Behandlungsmethoden trugen ihren russischen Namen, „Prozedury“ - zu Recht. Mit Schaudern denke ich noch an die „Eigenblutbehandlung“, der wir uns jeden zweiten Tag unterziehen mußten. An den Wochenenden wurden die Injektionen von Hilfsschwestern vorgenommen. Sie gruben unsere Arme mit der ewig selben Nadel auf der Suche nach Vene oder Arterie ratlos um.

Heute lese in Nr.29 der englischen Ausgabe von 'Moscow News‘ eine Reportage von Jewgenija Albats. Sie beschreibt darin die Stationen ihrer Schwangerschaft - ein für sowjetische Verhältnisse unerhörtes Thema. In der Bezirksambulanz für Frauen hat mich ganz besonders das Aids-Plakat beeindruckt. „Das Virus wird durch Sexualkontakte, Bluttransfusionen und von Müttern auf ihre Babies übertragen“, war dort zu lesen. Was mich hier verblüffte, war der Umstand, daß diese Schöpfung hygienisch-pädagogischen Denkens genau gegenüber der Tür des Laboratoriums hing, in dem die Assistentin den Frauen Blutproben mit Mehrfachspritzen entnahm. Wahrscheinlich hatte sie schon etwas von Einwegspritzen gehört, aber solche noch niemals gesehen. Gott gebe, daß sie als gute Assistentin die Spritzen und Nadeln ordentlich sterilisiert. Und wenn nicht? ... Eben das Fehlen von Einwegspritzen und die Tatsache, daß dieses Land in Bezug auf die Sterblichkeit an Virus-Hepatitis zu den führenden in der Welt gehört (ein Indikator für den Standard der öffentlichen Gesundheitsfürsorge), sollten die Aufmerksamkeit der Verantwortlichen erregen.

Warum kamen die Zustände in gynäkologischen Kliniken und Bezirksberatungsstellen nicht schon früher zur Sprache? Eine der Ursachen für das verschämte Schweigen ist gewiß die Prüderie in der sowjetischen Gesellschaft. Unter den Gynäkologinnen (männliche Ärzte auf diesem Gebiet sind in der Sowjetunion eine belächelte Seltenheit) gibt es mütterliche und verständnisvolle Frauen, aber auch viele „Vollzugsbeamtinnen“, die ihre Patientinnen mit der Routine und dem Zartgefühl von Pferdeschlächtern abfertigen. Vor allem jüngeren Frauen wird dabei das Gefühl vermittelt, eine solche Behandlung sei die gerechte Strafe für ihre Verwicklung in die „schmutzige“ Sexualität. Pilzinfektionen oder Herpesviren gar werden von den Ärztinnen zu Folgen eines „unordentlichen Lebens“ erklärt. Als meine Zimmernachbarin aus dem Studentenheim einmal glaubte, schwanger zu sein, kam sie verstört von der Bezirksberatungsstelle zurück. Dort stand ein vorsintflutlicher gynäkologischer Stuhl, auf dem frau sich angespannt festkrallen mußte, um nicht abzurutschen.

„Haben Sie's mit einem getrieben oder sind sie ein biologisches Wunder?“ herrschte die Ärztin sie an. „Wer sowas locker fertig bringt, hat kein Recht, sich hier zickig zu verkrampfen!“ Verhütungsmittel sind eine Rarität (der Autor des 'Ogonjok'-Artikels errechnete, daß sich auf dem Moskauer Markt gerade 3 von 100 Frauen für ein Jahr mit Kontrazeptiva eindecken können, gemessen an der Nachfrage, so meint er, verlassen 3 von 4 Frauen die Apotheke „im Bewußtsein der Schwere des Lebens, aber ohne Ware“). Manche Frauen glauben, die konzentrierte Einnahme von Aspirin verhüte eine Schwangerschaft, fast alle verabscheuen die klobigen und unzuverlässigen Kondome. Im Volksmund werden sie „Galoschen“ genannt. Olga, meine Zimmernachbarin im „Geburtshaus“, hustete Tag und Nacht. Sie neige nun einmal zu Lungenentzündungen, meinte Olga, und jedes Jahr, wenn der Organismus durch den „Abort“ ein wenig geschwächt sei, breche die Sache eben durch. Das sei nicht weiter tragisch.

Sieben Abtreibungen läßt die sowjetische Frau im Durchschnitt im Laufe ihres Lebens über sich ergehen. Jede fünfte Frau im gebärfähigen Alter nimmt, wie Olga, jährlich einen Schwangeschaftsabbruch vor. Olga, eine Verlagsangestellte, freute sich über die Gelegenheit, im Bett zu lesen: sie hatte gerade von einer Mitpatientin ein verbotenes Buch erwischt: Gedichte von Anna Achmatowa.

Olga war eine der Frauen, die gerne in der Klinik waren. Zu ihrem Leidwesen konnten sie häufig nicht so lange bleiben, wie sie gewünscht hätten. Sie kamen zumeist aus Kommunalwohnungen - große Gemeinschaftwohnungen, in denen infolge örtlicher Wohnungszwangswirtschaft oft eine Familie nur ein Zimmer bewohnt. Eine Frau, die bei uns auf dem Korridor lag, hätte gern ein Kind gehabt, doch die Schwiegermutter war nicht bereit gewesen, ein Kind in das gemeinsame Zimmer aufzunehmen. Eine andere sah mich unbeweglich mit starr-glänzendem Blick an, sie hatte 40 Grad Fieber. Ich konnte meinen Augen nicht trauen, als ich sie zwei Stunden später auf der Fensterbank sitzen sah. Von dort aus beschimpfte sie den Vater des abgetriebenen Kindes: der Haß hatte ihr ein letztes Mal Kraft verliehen. Am nächsten Tag war die Liege leer. Damals begriff ich: eine Frau zu sein ist lebensgefährlich!

Wir beneideten die jungen Mütter in der oberen Etage unterm Dach um ihre soziale Situation, um ihre körperliche Verfassung, auch wenn die Geburten in der Regel ohne vorbereitende Aufklärung verlaufen waren, auch wenn sie ohne Schmerzmittel erfolgten und die Frauen dabei mitunter allein gelassen wurden, sogar manchmal zu mehrerem in einem Raum gleichzeitig gebären mußten.

Heute versuche ich bei Besuchen zu Hause herauszubekommen, ob sich etwas geändert hat. Ich erzähle meine Geschichte Ljuda, einer jungen Dozentin, die gerade einen kleinen Sohn bekommen hat. „Die Gedichte von Anna Achmatowa sind nicht mehr verboten“, antwortet sie, „sonst hat sich nichts geändert!“ „Dürft ihr die Kinder nach der Geburt noch immer nicht sehen?“ „Auch das ist noch so, und es ist gut so: es fehlen nämlich Windeln. Wenn du nach Hause kommst, merkst du, daß das Kind ganz wund ist. Hättest du es vorher gemerkt, hättest du keine ruhige Nacht gehabt!“

Heute genügt es nicht mehr, nach den historischen Ursachen zu fragen. Der Autor des Aritkels in 'Ogonjok‘ fragt nach den konkreten Interessen, die hinter der Situation stehen: die Hälfte aller Gynäkologinnen in der Sowjetunion verdanken ihre Anstellung der hohen Zahl von Abtreibungen. Der Staat gibt für Schwangerschaftsunterbrechungen und deren Folgen jährlich eine Milliarde Rubel aus. Geld, das gewiß nützlicher verwendet werden könnte. Die Forderung am Ende des Artikels im 'Ogonjok‘ nach einer staatlichen Familienplanungsgesellschaft, die preiswerte und effektive Verhütungsmittel verteilt und einer öffentlichen Kontrolle unterliegt, ist im Sinne aller sowjetischen Frauen. Deren Äußerungen zum Thema sind noch zaghaft. Julija Wosnessenskaja hat eine solche typische Äußerung an das Ende ihres Romans „Das Frauen-Dekameron“ gestellt, der in einem Leningrader Geburtshaus spielt: „Es ist wahr, wir verstehen aus dem Leben, das uns zugedacht ist, etwas zu machen und sogar glücklich zu sein. Trotzdem, ein paar Erleichterungen hier und dort und vor allem mehr Menschlichkeit - Das wäre schön!“