Die Teile und das Ganze

■ Von den 45.Filmfestspielen in Venedig

Der Blick des Laien ist der aufs Ganze. Ich sehe nicht, wie ein Film zusammengesetzt wurde, ich sehe nur das Produkt. Der Laie, der zwar nur das Ganze sieht, aber gleich auch einen Begriff davon hat, gerät bei uns leicht in den Ruf, ein kritischer Kopf zu sein. Wir haben eine Schwäche für gut oder schlecht formulierte - Gemeinplätze. Man fragt mich also: Was ist denn diesmal los in Venedig? Worum geht's? Welche Filme werden gezeigt? Mir fällt dazu nichts ein. Mich bewegt vielmehr, warum Angelopoulos‘ „Nebellandschaft„ in meinen Augen ganz offensichtlich ein kunstgewerblicher Schmarrn ist, während fast alle anderen Zuschauer den Film für ein Meisterwerk halten. Auf den Vorwurf, er zitiere Tarkowskis Baum, Fellinis Hubschrauber und Motorräder, antwortet Angelopoulos, Tarkowski habe kein Monopol auf Bäume, Fellini keines auf Statuen transportierende Hubschrauber. Über die dummdreiste Perfidie dieser Antwort und die entsprechenden Szenen würde ich lieber diskutieren.

Aber auch das hat seinen Reiz: Von 22 Wettbewerbsfilmen sind 13 Literaturverfilmungen, und bei den acht Filmen, die ich bisher gesehen habe, spielte in dreien der Inzestwunsch eine zentrale Rolle. Jedesmal: Vater und Tochter. In Paul Vecchialis „Encore„, wo die Stieftochter den Stiefvater mit ihrer Hingabe verfolgt, als würde der arme Kerl nicht schon von ihrer Mutter genug bedrängt, in Botelhos portugiesischer Übertragung von Dickens‘ „Schwierige Zeiten„ grabscht sich der Fabrikant ein junges Mädchen, das laut Drehbuch zwanzig Jahre alt sein soll, aber aussieht wie sechzehn. Angelopoulos erklärt, die Vergewaltigung der 12jährigen Hauptperson durch einen Lastwagenfahrer, der „Inzest“ - so erklärte er ausdrücklich - gehöre eben zu einer Initiationsreise hinzu. Was schließt man aus solchen Erhebungen? Wer sich viel mit Literatur beschäftigt, neigt zu inzestuösen Gefühlen, oder sind die Regisseure so alt geworden, daß sie nicht mehr leben, sondern lesend ihren Töchtern nachstellen? Doch: der inzestuöse Akt wird nie gezeigt. Bei Vecchiali wird dauernd von ihm geredet, bei Botelho heiraten die beiden und bei Angelopoulos findet die Vergewaltigung auf dem Laster hinter der heruntergelassenen Plane statt. Wir sind ihm dankbar dafür.

Arno Widmann