Spekulationen über den Robbentod

■ Während die Robben aussterben, kramen die Forscher in den Bauchläden möglicher Theorien / Hundestaupe-Spekulation wird angezweifelt / Niederländer betrieben Geheimniskrämerei / Leiter von Robbenstation nennt Untersuchungsergebnisse „unseriös“

Berlin (taz) - Mit jedem Tag, an dem das Robbensterben fortschreitet, scheint die Ursache der drohenden Ausrottung der Meerestiere immer ferner. Einem Bericht der Londoner 'Times‘ zufolge hat das Seehundsterben seinen Ursprung im Norden Kanadas genommen. Nach einer Hundestaupe-Epidemie im letzten Oktober auf der Baffin-Insel soll demnach der Virus von erkrankten Wölfen und Füchsen über die vereiste Baffin Bay nach Grönland eingeschleppt worden sein. Die erkrankten Tiere hätten dann die Grönländischen Schlittenhunde mit dem Erreger infiziert. Und diese seien wiederum für den Tod unter den Seehunden verantwortlich. Als Beleg für diese neueste Spekulation wird ein Massensterben von Schlittenhunden angeführt, dem in der Nordregion Grönlands bis zum Februar 1988 rund 2.000 Hunde zum Opfer gefallen sein sollen.

Daß Hunde Schuld am Robbentod tragen, hatten schon am Montag auch die Forscher des niederländischen Nationalinstituts für öffentliche Gesundheit und Umweltschutz in Pieterburen behauptet. Sie machen ebenfalls den Hundestaupevirus oder zumindest einen sehr ähnlichen Virus als alleinige Ursache der Tiertragödie verantwortlich. Einen lächerlich simplen Infektionsweg bot der niederländische Biologe Albert Osterhaus dabei als plausibel an: Ein Hund könnte eine Robbe am Strand gebissen haben. Eine ähnliche Vermutung hegen seine Kollegen in Dänemark, nur, in ihrer Theorie ist der allesentscheidende Biß in Grönland geschehen. Das haben sie aus der Tatsache gefolgert, daß seit Jahrzehnten erstmals wieder in dänischen Gewässern grönländische Robben beobachtet worden sind. Und dort habe es schließlich die Epidemie unter den Schlittenhunden gegeben. Ausgebreitet hätte sich das Robbensterben dann mit der Nahrungsuche der grönländischen Seehunde, die im Sommer in westeuropäische Gewässer wandern sollen. Völlig verwirrt wird der Seehund-Freund aber dann, wenn in niederländischen Forscherkreisen geäußert wird, möglicherweise hätten die Robben die Schlittenhunde angesteckt und nicht umgekehrt. Allemal unbestritten ist, daß sich Grönlands Hunde auch gerne über den Speck der Robben hermachen. Die neuen Erkenntnisse der Niederländer sind bei ihren Forscherkollegen überwiegend auf Skepsis gestoßen. Bereits letzte Woche erklärten Niederländer, die Ursache des massenhaften Robbentodes geklärt zu haben. Gleichzeitig hatten sie sich aber in Schweigen gehüllt und auf eine Vereinbarung mit der angesehenen britischen Wissenschaftzeitung 'Nature‘ verwiesen. Abgemacht war, daß die Forschungsergebnisse erst heute, am Erscheinungstag von 'Nature‘, veröffentlicht werden. Um der wachsenden Kritik an der Geheimnistuerei zuvorzukommen, hatten die niederländischen Behörden aber schon am letzten Montag eine Pressekonferenz anberaumt und die wesentlichen Neuigkeiten verkündet.

Der Leiter der niedersächsischen Seehund-Aufzuchtstation in Norddeich, Rabenstein, nannte seine niederländischen Kollegen „unseriös“. Sie hätten schon mehrfach behauptet, die Ursache des Robbensterbens entdeckt zu haben. Der Erfolgsmeldung aus Pieterburen, einen Impfstoff gegen den tödlichen Virus entwickelt zu haben, hielt er entgegen: „Den gibt es noch nicht.“ Bisher seien allenfalls die Grundlagen bekannt, die zur Herstellung eines Serums führen könnten. Ein Sprecher des Veterinärmedizinischen Instituts im schwedischen Uppsala torpedierte die holländische Erfolgsmeldungen am selben Tag von einer anderen Seite. Er erklärte eine großangelegte Impfaktion für die wenigen noch gesunden und wild lebenden Tiere für unmöglich.

Skeptisch beäugt werden die vermeintlichen Rettungsbotschaften auch in Schleswig-Holsteins Umweltministerium. Den Worten des Sprechers Christoph Adam zufolge geht das Umweltministerium nach wie vor davon aus, daß das Immumsystem der Mereestiere durch die Schadstoffe in Nord- und Ostsee so stark belastet ist, daß es den natürlichen Krankheitserregern, wie Viren und Parasiten, nicht mehr widerstehen kann. Der Kieler Umweltminister ließ süffisant vermerken, die Ergebnisse der niederländischen Forscher seien zwar wissenschaftlich interessant. Sie änderten aber nichts an der Tatsache, daß bei der Bekämpfung der Ursachen des Robbensterbens das Gesamt-Ökosystem Nordsee betrachtet werden müßte. Ein Mitarbeiter der Verwaltung des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer erklärte zu den Spekulationen: „Dann müßte die Seuche von Grönland - ohne Norwegen zu berühren - ins Kattegatt gekommen sein“.

Der wissenschaftliche Disput geht weiter, und die Anzahl der verreckten Seehunde hat die 80-Prozentmarke schon fast erreicht. Wenn acht von zehn Tieren in der Population gestorben sind, muß nach Ansicht der Wissenschaftler mit dem Aussterben der Gattung gerechnet werden.

wg