Quoten: Damit das Fleisch so stark wird wie der Geist

Vorne, auf der Vorstands-Tribüne, gibt's jetzt Küßchen. Oskar Lafontaine und Inge Wettig-Danielmeier, die Vorsitzende der SPD-Frauen, liegen sich in den Armen, und Hans-Jochen Vogel freut sich mit hochrotem Kopf. Nun stürzen die Fotografen nach vorn und verstellen den Blick.

Die Stimmen sind ausgezählt: Nur 54 Delegierte waren gegen die Muß-Quote, 362 dafür. Das sind 87 Prozent der Parteitags -Delegierten, die erforderliche Zweidrittelmehrheit ist also weit überschritten. Unter den Gästen, auf der Empore der Halle, sind viele Frauen; sie sind aufgestanden, klatschen und freuen sich furchtbar. Die Bonner Abgeordnete Renate Schmidt steht unter den Delegierten und heult. Auch Inge Wettig-Danielmeier wischt sich die Tränen vom Gesicht, als sie an ihren Platz zurückgeht. Nur Johannes Rau sieht die ganze Zeit aus, als ob er eine Handvoll Spinnen verschluckt hätte. Als er den Parteitag eröffnete, hat er das Wort Quotierung nicht einmal erwähnt.

Nun müssen also im Jahr 2000 (genauer: ab 1998) 40 Prozent aller Wahlmandate für Frauen reserviert werden (1990: 25 Prozent, und 1994: 33 Prozent). Bei den Parteiämtern wird es ein klein wenig flotter gehen: Da sollen den Frauen 40 Prozent der Ämter schon ab 1994 gehören. Das war der Antrag des Parteivorstands, der zur Abstimmung stand. Freilich hat die Sache einen kleinen Haken: „Finden“ sich nicht genügend Frauen, dann werden die Wahllisten und Ämter mit Männern „aufgefüllt“. Das vermindert bekanntlich den Druck, gezielt nach Frauen zu suchen und auch an sonstigen Bedingungen etwas zu verändern. Bei den Grünen mit ihrer 50-Prozent -Quotierung bleiben deshalb viele Plätze einfach leer, weil es an Kandidatinnen fehlt.

Der Parteitag hatte am Dienstag nachmittag mit der Quoten -Debatte begonnen. Das Interesse war groß, Über dreißig Delegierte meldeten sich zu Wort. Von den Frauen redete keine einzige gegen die Quote, was vorher nicht abzusehen war. Auch der profilierteste Quoten-Gegner Friedhelm Farthmann, Fraktionsschef in Nordrhein-Westfalen blieb sehr moderat: Er habe nur Angst, die Partei beschäftige sich wegen der Quote nur noch mit sich selbst und vernachlässige den Kampf gegen den politischen Gegner. Für Baden -Württemberger, die mehrheitlich nur eine Soll-Quote wollten, legten sich die Landesvorstände Uli Maurer und Ulrich Lang ins Zeug: Die Bedenken, so Uli Maurer, richteten sich „ausschließlich gegen das Instrument“: „Emanzipatorische Ziele sollten nur mit emanzipatorischen Mitteln erreicht werden.“ Uli Lang führte aus, daß die Zahl der politisch aktiven Frauen in Baden-Württemberg auch ohne Quote gewachsen sei und bei ihnen keine Frau im Verdacht stehe, aus anderen Gründen als solchen ihrer Qualifikation gewählt worden zu sein. Die Partei habe immer folgenschwere Beschlüsse gefaßt, sie habe den Kriegskrediten zugestimmt und den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen. Aber noch nie sei sie auf die Idee gekommen, „Abstimmungsprozesse mit Korsettstangen zu manipulieren“. Daß „am Ende des 20. Jahrhunderts ein Geschlechterwahlrecht eingeführt wird“, schimpfte der Baden-Württemberger, das habe die SPD wahrlich nicht verdient.

Die Fronten verliefen dabei quer zu den sonstigen Flügeln. So regte sich einer der „Enkel“, der rheinland-pfälzische Landesvorsitzende Rudolf Scharping, ebenfalls darüber auf, daß die SPD mit der Quote ihre aufklärerische Tradition über Bord werfe. Und Björn Engholm, der siegreiche „Enkel“ aus Schleswig-Holstein, entgegnete, „angesichts des historischen Elends der immerwährenden Benachteiligung der Frau“ sei die Quote als Mittel zur Gleichstellung höher zu bewerten als alle Gegenargumente: Nach über 100 Jahren sei es Zeit, von der Theorie zur Praxis überzugehen.

Doch ohne den Segen von Hans-Jochen Vogel hätten die männlichen Delegierten gewiß nicht so gespurt. „Aus Gründen der Solidarität zur Partei und insbesondere zu ihrem Vorsitzenden“ stimme er der Quote zu, meinte ein Delegierter, obwohl er eigentlich gar nicht dafür sei. Zu Hause, in seinem Unterbezirk, hätten sie gesagt, der Vogel „hat gute Arbeit geleistet“, und sie wollten ihm nun „ein Dankeschön sagen“. Außerdem seien sie froh gewesen, daß der Vorstand keine Sanktionen vorgesehen habe. Warum er für die Quote ist, brachte ein anderer Delegierter so auf den Punkt: Klare Strukturen müßten her, „damit das Fleisch immer so stark ist wie der Geist“.

Den Frauen merkte man an, daß sie ihre Argumente schon hundertmal vorgebracht und das Thema einfach „satt haben“, wie Renate Schmidt bemerkte. Inge Wettig-Danielmeier zählte noch einmal alle Niederlagen auf, die Frauen bisher einstecken mußten: „Wir setzten auf Einsicht und Überzeugung, das war ein historischer Irrtum.“ Heidi Wieczorek-Zeul, Bundestagsabgeordnete und Unterbezirksvorsitzende in Hessen, hielt dem Parteitag vor, daß es die SPD seit der Einführung des Frauenwahlrechts vor 70 Jahren gerade geschafft habe, 6 Prozent mehr Frauen in den Bundestag zu schicken als damals: „Sollen wir Frauen also noch 350 Jahre warten?“ Und sie ermahnte alle, an den Kosten-Nutzen-Effekt zu denken: „Ohne die Frauen wird es keine Rückkehr zur gesellschaftlichen Reformfähigkeit geben.“ Auch Renate Schmidt betonte später, die SPD müsse bei dieser Entscheidung „auch an die Außenwirkung denken“. Wenn der Parteitag Nein zur Quote sage, könne man nicht einmal mehr Frau Süssmuth kritisieren. Überhaupt erstaunte, wie offen die Quote gleich in Wählerinnenstimmen umgerechnet wurde. Und die Forderung, die eigene Glaubwürdigkeit unter Beweis zu stellen, fiel so ungefähr in jedem dritten Satz. Die neue Frauenministerin aus Schleswig-Holstein, Gisela Böhrke, war die einzige, die die Vorlage des Parteivorstands noch einmal kritisierte. Schließlich wollten die SPD-Frauen ja ursprünglich die 40-Prozent-Quote ein paar Jährchen früher haben. „Mir leuchtet nicht ein, warum bei den Mandaten ein längerer Zeitraum vorgegeben wird.“ Und sie fügte hinzu: „Hier wiederholt sich auf fatale Weise das alte Muster, daß die unbezahlte Arbeit den Frauen gehört, während die gut dotierten Posten der Abgeordneten noch ein bißchen länger den Männern vorbehalten werden.“

Gut drei Stunden dauerte die Debatte. Nachdem die Muß-Quote beschlossen war, ging auch der Rest glatt durch: Damit Johannes Rau und Oskar Lafontaine im Vorstand bleiben können und sich die SPD nicht gleich blamiert, wurde ein dritter Stellvertreterposten eingerichtet. Die Bundestagsabgeordnete Hertha Däubler-Gmelin kandidiert dafür als einzige Frau. Damit ist sie so gut wie gewählt.

Am Abend luden die SPD-Frauen ins Münsteraner Theater-Cafe zum Frauenfest: „Marmor, Stein und Eisen bricht - aber unsere Frauenpower nicht“, sangen sie, ausgelassen und euphorisch.

Ursel Sieber