Schling nicht so

■ Ermano Olmi hat auf seine Mama gehört

„Schling‘ nicht so. Du mußt kauen, ganz ruhig kauen. Mindestens fünfzehn Bisse pro Brocken. Eins, zwei, drei...“ Schon hatte ich das Teil runtergeschluckt. Meine Mutter sah mich strafend an, vergaß aber nie, diese Predigt zu wiederholen. Später hörte ich dann, wer abnehmen wolle, brauche nur mehr zu kauen. Er esse dann auch weniger. Als dann gar noch Leute den aussichtslosen Versuch unternahmen, mich in einen Gourmet zu verwandeln, da erfuhr ich, man müsse kauen, noch einmal kauen, immer wieder kauen, weil man nur so den Geschmack genießen könne, den die maitres de cuisine in angestrengter Konzentration und mit peinlicher Sorgfalt produziert hätten. Ich muß gestehen, ich bin ein Schlinger geblieben. Wenn mir etwas schmeckt, dann will ich es essen, immer wieder und immer mehr. Und wenn ich vor die Wahl gestellt würde, immer das essen zu können, worauf ich Lust habe oder auszusehen wie Richard Gere, ich würde keine Sekunde zögern, mich gegen Richard Gere und für die vollen Teller zu entscheiden.

Ermano Olmi hat auf seine Mamma gehört. Er kaut und kaut, und wir, die Zuschauer, kauen mit ihm. Die Seinebrücken, den Regen, die minutenlangen Blicke durch beschlagene Fensterscheiben und wieder die Brücken, der Regen, die Blicke. Eine Endlosschleife. Joseph Roths Roman „Die Legende des heiligen Trinkers“ ist ihm zwischen den Einstellungen zerronnen. Jede Einstellung eine schöne Einstellung. Eine traurig schöne dazu. Alles fürs Auge. Die Kneipen des heiligen Trinkers sind geruchsfrei, der Luft fehlt der strenge Geruch nach Absinth. Das nie gewaschene Hemd hat dunkle Flecken, als ginge es auch ihm nur um die Herstellung eines kunstvollen clair obscur. Es stinkt nicht nach Schweiß, Alkohol und Erbrochenem. Die Hände ekeln sich nicht davor, es anzufassen und nichts sträubt sich im Zuschauer, wenn zwei Pennbrüder einander küssen. Alle Sinne werden betrogen, nur das Auge soll bedient werden. So reich dessen Bescherung ausfällt, auch das Auge fühlt sich hintergangen. Es soll der abstrakteste Sinn sein, aber auch das Auge scheint, um Lust zu verspüren, darauf angewiesen zu sein, daß die Achsel nicht nur ihm, sondern auch der danach verlangenden Hand, der riechenden Nase gezeigt wird.

Olmi hat vergessen, daß die Bissen, kaut man sie zu lange, jeden Geschmack verlieren. Nur noch ein feuchter Brei in der Höhle des Mundes.

Arno Widmann