Die besseren Deutschen kommen

■ In Nürnberg werden Aussiedler durch die Bürokratie geschleust / Von Vera Gaserow

Am Ende dieses Jahres wird die Bevölkerung der Bundesrepublik um die Einwohnerzahl einer mittleren Großstadt angewachsen sein: Insgesamt 200.000 deutschstämmige Aussiedler aus der Sowjetunion, Rumänien und Polen werden allein 1988 erwartet. Tendenz: steigend. Am Mittwoch beschloß die Bundesregierung ein Sonderprogramm für sie, die seit Jahren in die deutsche „Heimat“ gerufen und teilweise freigekauft wurden. Doch die Probleme der Aussiedler sind nicht zu übersehen: überfüllte Lager, bürokratische Hindernisläufe und Ressentiments in der Bevölkerung gegenüber den frisch adoptierten „Brüdern und Schwestern“, die Innenminister Zimmermann gestern als „bescheiden, mit einem starken Willen zur Arbeit“ und als „volkswirtschaftlichen Gewinn“ lobte.

„Aber nicht, daß Sie uns in Ihrem Artikel mit dem Asyllager Zirndorf verwechseln“, mahnt Klaus Stöcker, Leiter der Durchgangsstelle für Aussiedler in Nürnberg zum Abschied, „mit Asylanten haben wir hier nichts zu tun.“ Nein, „Asylanten“ sind sie nicht, die rund achthundert Menschen, die hier in ständigem Wechsel durchgeschleust werden. Und Nürnberg ist nur eines der drei großen Durchgangslager für osteuropäische Aussiedler. Wenn sie, meist übernächtigt von tagelanger Odyssee, schubweise hier in Reisebussen ankommen, dann werden sie nicht wie andere ausländische Flüchtlinge zurückgewiesen oder gar der Polizei übergeben. Man bemüht sich, die Neuankömmlinge willkommen zu heißen, überreicht ihnen Zimmerschlüssel und Verpflegungspakete, denn die Fremden gelten nicht als Ausländer, sondern als Deutsche, auch wenn weder sie noch ihre Eltern und Großeltern jemals in Deutschland waren. Und statt eines Asylantrags werden die meisten sehr bald einen deutschen Paß in der Hand halten.

Schwer genug ist der Anfang dennoch für sie. Die „gelbe Karte“, so lernen schon am ersten Tag die Ankömmlinge im Durchgangslager, das mitten in Nürnbergs Industriezentrum liegt, ist vorerst das wichtigste im neuen Leben. Sie markiert die Stationen, die jede(r) anlaufen muß. Sie entscheidet über die Tage, die man hier dichtgedrängt mit achthundert anderen in den fünfzehnstökkigen Wohntürmen in der Beuthener Straße verbringen muß. Und sie garantiert Wohlbekanntes aus dem gerade hinter sich geglaubten Alltag: das Schlangestehen.

Ohne Schlangestehen läuft in der Aussiedler-Stelle so gut wie nichts. Wie die beiden anderen Durchgangslager, das hessische Friedland und Unna-Massen bei Dortmund, ist auch das Lager Nürnberg seit Monaten restlos überlastet. Für 14.000 Aussiedler, überwiegend aus der Sowjetunion und Rumänien, ist die Durchgangsstelle bereits in diesem Jahr Anlaufadresse gewesen. 30.000 werden es bis Jahresende sein, doppelt so viele wie 1987.

Eigentlich sollen die drei Durchgangsstellen nur Unterkunft für zwei Tage bieten. Längst dauert es jedoch fünf bis acht Tage, bis die Neuankömmlinge anderweitig untergebracht werden können, denn, so Lagerleiter Stöcker, „der Abfluß stagniert derzeit“. Anders als Asylbewerber werden die deutschstämmigen Aussiedler nicht nach einem speziellen Quotenschlüssel auf die einzelnen Bundesländer verteilt, sondern kommen in die Region, in der schon ihre Verwandten leben. Rund 70 Prozent bleiben in Bayern und Baden -Württemberg. Wenn sie nicht gerade bei Familienangehörigen unterkommen können, folgt Übergangswohnheim Nummer zwei während der meist vergeblichen Wohnungssuche. „Die Arbeitssuche“, meint Lagerleiter Stöcker, „ist meist nicht so schwer wie die Wohnungssuche. Aussiedler sind beliebte Arbeitskräfte. Die können, wie neulich ein Schreiner sagte, noch an der Decke über Kopf arbeiten und sind sehr motiviert.“

Bevor jedoch an einen Schritt aus dem Lager gedacht werden kann, beginnt in der Durchgangsstelle schon am Tag nach der Ankunft die harte Arbeit am Fließband. „Familie Bosch, bitte zum Arbeitsamt!“, „Familie Sänger, zur Registrierung!“ „Frau Marie Bauer, zur Sprachteststelle!“ - in Minutenabständen hallen die Lautsprecheranweisungen die fünfzehn Stockwerke rauf und runter. Rund sechzehn Stationen muß eine Aussiedlerfamilie hinter sich bringen, und was man schon „geschafft“ hat, ist Tagesgespräch auf den Gängen. Von der ärztlichen Untersuchung, führt der Weg übers Röntgen zur Registrierung, wo eines der wichtigsten Dokumente ausgestellt wird: der Registrierschein, der - beinahe so wertvoll wie ein deutscher Paß - dem Aussiedler bestätigt, daß er keinen Arbeits- und Aufenthaltsbeschränkungen unterliegt, sondern rechtlich einem Deutschen gleichgestellt ist.

Der nächste Weg führt zum hauseigenen Arbeitsamt, wo - um keine Ansprüche zu verlieren - sofort der Antrag auf Arbeitslosengeld gestellt wird. Zwischendurch: Empfang des Proviantpakets, der Kantinenmarken und des Verpflegungsgeldes. Danach Sprachtest und Entscheidung über etwaige Sprachförderprogramme. Später dann: Vorladung zum Bundesbeauftragten im siebten Stock, der die Nachweise über die deutsche Abstammung prüft. Wer dann noch nicht erschöpft ist, kann den diversen Landsmannschaften, die im Hause ihre eigenen Büros haben, einen Besuch abstatten oder gleich im zweiten Stock die obligatorische Station „Sozialbetreuung“ absolvieren. Dort waltet mit erdrückender christlicher Nächstenliebe die „Friedlandhilfe“ - getragen von gemeinnützigen und kirchlichen Wohlfahrtsverbänden. Auf deren Arbeitsprogramm steht der Punkt „Willkommensgeschenk“. Mit strahlendem Lächeln hält eine Sozialarbeiterin den Neuankömmlingen mal einen funkelnagelneuen Jogging-Anzug („Gell, der ist schön!“), mal einen Pullover entgegen. „Neulich“, freut sich die gute Fee vom Diakonischen Werk, „hat a Aussiedlerin zu ihrem Sohn gesagt: Jetzt, mit dene Jeans, schaust aus wie ein deutscher Junge!“ Einem jungen Mann aus Polen scheint eine Jeans als Nachweis der neuen Identität noch nicht zu reichen. Er hat sich einen schwarzen Reichsadler auf seinen weißen Pullover sticken lassen mit dem dicken schwarz-rot-goldenen Bekenntnis „Deutschland!“ darunter.