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Schweinesystem und Objekt der Begierde

■ In der Alternativen Liste wird mal wieder über den Parlamentarismus gestritten / Rückbesinnung auf die Anfangszeiten und die Idee des „symbolischen Lochs“ / Der Geschäftsführende Ausschuß empfiehlt, sich auf Schwerpunkte zu konzentrieren

Jetzt, kurz bevor die Mitgliedervollversammlung Anfang Oktober die Wahlliste aufstellen wird, wird innerhalb der AL der uralte Streit ums Parlament wieder aufgewärmt. Ausgelöst durch einen Vorschlag des „Büros für ungewöhnliche Maßnahmen“, namentlich Kurt Jotter, soll die Debatte um das Verhältnis zwischen außerparlamentarischer und parlamentarischer Opposition zum Wahlprüfstein für die KandidatInnen werden.

„Auch wenn es banal klingt, die Sichtweise des bürgerlichen Staates als eine widersprüchliche Herrschaftsform ist der zentrale theoretische Ausgangspunkt für eine linksökologische Gesellschaftspolitik“, schreibt Bernd Köppl in seinem Aufsatz in der neuesten Ausgabe der „Stacheligen Argumente“.

Dem Staats- und Parlamentsverständnis von Bernd Köppl stehen die Vorstellungen des „Büros“ nahezu diametral entgegen. Das Parlament ist „Bühne“, die Parlamentsarbeit „zusätzliche Ebene der Auseinandersetzung“. Die Analyse des „Büros“ heißt: „Das völlige Sich-Einlassen auf parlamentarische 'Notwendigkeiten‘ und die Mitarbeit in allen Gremien hat dermaßen viel Kräfte absorbiert, daß die Beteiligung der AL am Kampf außerhalb der Parlamente immer unmöglicher wird.“ Er propagiert dafür, daß die AL zu ihrer ursprünglichen Konzeption einer „wirklichen“ Dialektik zwischen Standbein und Spielbein zurückkehren soll. An den Wahlen solle sich die Partei zwar beteiligen, die Sitze im Abgeordnetenhaus und in den Ausschüssen aber leer lassen oder lediglich mit stummen BeobachterInnen besetzen. Dieses „symbolische Loch“, wie Jotter es bezeichnet, würde die ganze Zeit viel publizistische Aufmerksamkeit auf sich lenken. Der Vorschlag ziele auf die „Reaktivierung eines ziemlich eingeschlafenen, aber großen Potentials von Anders -Denkenden“. Der „Denkpause“, wie sie Dieter Kunzelmann im letzten Jahr der Partei empfohlen hatte, setzt das „Büro“ eine „Aktionspause“ entgegen.

Als weniger radikalen, pragmatischen Ausweg aus der Misere setzen die drei Mitglieder des Geschäftsführenden Ausschusses (GA) Assi Geese, Birgit Arkenstette und Harald Wolf „Schwerpunkte“ dem „Zwang zur Allzuständigkeit“ entgegen. Sie bewerten negativ, daß die „Parlamentarisierung der AL“ auf vielen Einzelgebieten der Stadtpolitik eine immer größere Menge an „Fachwissen hervorgerufen hat“. Die Regierungskoalition würde nicht mehr „grundsätzlich attackiert“. Daraus entstehe auch der „Zwang zur Machbarkeit“. Die Tatsache, daß im Laufe der Amtsperiode der Dritten Fraktion mehr AL-Anträge vom Abgeordnetenhaus angenommen wurden als die Jahre zuvor wird zwar als Erfolg detaillierter inhaltlicher Politik gewertet, doch rücke damit die fundamentale Kritik in den Hintergrund. Das müsse wieder anders werden. In ihren Analysen beziehen sich die drei weitgehend auf einen Artikel von Bodo Zeuner aus dem Jahr 1982.

In beiden Kritikansätzen zur Parlamentsarbeit schwingt die Schuldzuweisung an die Fraktion mit: Weil ihr da seid, werden die Leute nicht mehr selbst aktiv. Eine Auswertung von bislang acht Jahren Parlamentsarbeit - und das ist das Bedauerliche an der jetzigen Debatte - fand und findet nicht statt. Weder wurden einzelne Politikfelder und der Einfluß, den AL-Initiativen hatten, analysiert, noch die tatsächliche Zusammenarbeit zwischen Fraktion und noch funktionierenden außerparlamentarischen Gruppen untersucht. Es ist kaum vorstellbar, daß beispielsweise Asylgruppen wollen, daß Wolfgang Wieland im Innenausschuß nur noch als stummer Beobachter sitzen soll.

Die derzeitige Fraktion ist sich weitgehend einig. Sie sehen zwar bei sich selbst auch mangelnde Radikalität beispielsweise in Ökologiefragen. Von „Pause“ oder gar einem „Loch“ halten sie aber gar nichts. Die Fraktion könne die nicht vorhandene Bewegung und Lebendigkeit nicht durch „Radschlagen im Parlament“ ersetzen, meint Fraktionsvorsitzender Wieland. Er hält die Diskussion über den Parlamentarismus für eine Folge der derzeitigen Aussichtslosigkeit, den Diepgen-Senat abzulösen. Weitere vier Jahre in der Opposition begeisterten niemanden und so richte sich die ganze Unzufriedenheit gegen die AL selbst.

Die Parlamentarismusdebatte als Scheingefecht. Jetzt, kurz vor der Kandidatennominierung, wird sie als Stimmungsmache benutzt und, wie zu befürchten ist, von beiden Seiten. Dabei geht es auch und ganz profan um die Verteilung der Pfründe. Die AL wird, glaubt man Unkenrufen aus den eigenen Reihen, Stimmen verlieren bei der nächsten Wahl. Und die aussichtsreichen Listenplätze sind knapp. Die Abschaffung der Rotation ermöglicht erfahrenen KandidatInnen ein Comeback. Auf den Vorschlagslisten stehen schon Namen wie Schramm, Bischoff-Pflanz, Künast und Kuhn. Jetzt soll die MVV mit einem Essentiell zur Parlamentsfrage dem Vormarsch der Realos einen Riegel vorschieben.

Die Frage, warum die AL keine Macht haben will und warum niemand mehr Politik machen möchte, bleiben im „Loch“ stecken.

Brigitte Fehrle

Die Diskussion über den Parlamentarismus beginnt morgen, Dienstag, um 19 Uhr, in der AL-Tagungsetage in der Badenschen Straße.

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