Marclay's Recordsaw Massacre

■ Christian Marclay in Berlin

Zuerst auf „My fair lady“, dann mit dem zweiten Schritt auf „Kraftwerk“. Die einen zögern, die anderen merken immer noch nicht, daß sie auf Schallplatten laufen. Gewichtsverlagerung, sich leicht machen, versteckte Blicke auf die Füße: Cat Stevens mit dem Absatz, den Ballen auf Santana - beruhigend. Den rechten Fuß versehentlich auf Dean Martin - Jean Luc Ponty wählen und sich etwas drehen. Aufatmen.

Christian Marclays „One thousand records“ in Berlins Avantgarde-Plattenladen „gelbe Musik“: 300 Platten auf den Boden geklebt, die restlichen 700 hüllenlos übereinandergestapelt im Fenster, stumme Zentner Musik, anonym und bedrohlich. Manche beginnen zu suchen - Jazztone, ein seltenes Stück, das ich lange gesucht hatte. Damals. Hendrix‘ „Band of Gypsies“ mußte ich mir immer bei Matthias anhören. David Bowies „Bewlay Brothers“, wie habe ich es geliebt. Und jetzt stehe ich drauf. Vergessene Bilder, man kramt in der Schachtel, ein Foto vor Augen, sitzt plötzlich zwei Stunden, blättert in seinem Kopf. Und dann reicht's auf einmal, man verharrt auf dem „White Album“ der Beatles, und heimlich dreht sich der Absatz, helterskelter.

Marclays Installation ist eine gute Idee. Mit den Füßen auf seinen Lieblingsobjekten herumtrampeln: auf aufgeschlagenen Büchern, verklebten Geldscheinen, knackenden Videocassetten, schönen Unterhosen. Es tut weh, anfangs, und es wird besser. Haß und Liebe. Voll Genuß steige ich auf Emerson, Lake and Palmer, Steve Hillage mit der Schuhspitze bohren, Asche auf David Bowie. Bach, Sinatra und Kid Ory umgehen, die Frau nebenan merkt offenbar nicht, worauf sie steht.

Die wunderschönen Farben bestimmen: Bellaphon-lila, Island -rosa, Savoy-braun, CBS-orange, Decca-rot, Grunt-schwarz. Namen wie Bacillus, Vanguard, Swing, Blue note, Atlantic Geschichten endlosen Wühlens in Plattenstapeln, des Triumphs, und jetzt liegen sie, der Ecke des Raumes angepaßt, zersägt. Turnschuhe, Slipper, Stöckelschuhe - das Betrachten der Schuhe wird wichtiger als der Ausdruck der Gesichter. Zwei Kinder schlittern durch den Raum. Ein hohes, tonloses, schleifendes Geräusch. K-Tel klingt wie Virgin. Nichts ist so schön und so tot wie Schallplatten; träumen, was nicht zu hören ist.

Christian Marclay, geboren in Genf, Studium der Bildhauerei, über Boston nach New York gekommen („New York has the best trash“), gibt Konzerte, zerstört seine Platten, indem er sie liebt. Er zerschneidet sie mit einer Juweliersäge, klebt sie zu einer Pizza „Otto stazione“ wieder zusammen, beschichtet, schmilzt sie. Johann Strauß, Geräuschplatten, African drumming, Wagner, zwei Rillen von jedem, durch Klebepunkte fixiert - ein rhythmisches und melodisches Schlachtfest eines Sammlers, ein musikalisches Opfer simultan auf vier Plattenspielern. Marclay trommelt auf dem Tonarm, läßt die Nadeln springen, ratscht sie quer über die Rillen - seine Konzerte sind intensiv und doch irgendwo harmloser als diese Ausstellung. Harmlos, weil Musik wieder zu hören ist, weil Musik Zitat bleibt, collagenhaft und vergnüglich. Dagegen - wenn sie liegen, wenn sie stumm bleiben, werden sie magisch. Ein Buch für Analphabeten, Objekt der Lust, endlose Suche nach Klängen und Stücken, die man noch nie gehört hat. Süchtig und vergeblich: Gedicht eines Lebens, Inventare von Wahnsinnigen, die nur mehr Platte für Platte aufzählbar sind. Ob Marclay Lieblingsplatten besitzt, für die letzte Installation seines Lebens? Man gewöhnt sich daran, auf fremden Platten zu gehen, die Eagles und Karajan spürt man kaum mehr.

Konrad Heidkamp

Die Ausstellung in der „gelben Musik“, Schaperstraße 11, Berlin 15, ist bis zum 1.Oktober 1988 geöffnet.