Die Zeit anhalten

■ Besser ein schlechter Film über Gewalt als keiner

Der italienische Filmregisseur und langjährige Gatte von Claudia Cardinale, Pasquale Squitieri, ist bei uns kaum bekannt. In meinem Pantheon steht er freilich als der Autor des erotischsten Filmes, den ich kenne: „Malizia“. Dieses Jahr zeigt Squitieri in Venedig seine Verfilmung von Nanni Balestrinis neuestem Buch „Die Unsichtbaren“. Es handelt sich um die Geschichte einiger Freunde aus der Bewegung von 1977. Damals fielen Jugendliche Stadtindianer in die Zentren ein, stürmten Kinos und Supermärkte. Zum ersten Mal in der italienischen Nachkriegsgeschichte wurde die Konsumgesellschaft in Frage gestellt. Im Zentrum des Films steht der Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses von Trani. Dort kam es zu einem Gefangenenaufstand, der mit massivem Militäreinsatz brutal niedergeschlagen wurde.

Squitieri hat einen schlechten Film aus der Geschichte gemacht. Die Militärs stürmen das Gefängnis zum Walkürenritt, und das Blut liegt zu zart auf den Gesichtern, als daß es aus der Haut gesprungen sein könnte.

Dario Fo, der erfolgreichste lebende italienische Bühnenautor und einer der besten Komiker weltweit, stellte auf der Pressekonferenz provokatorisch die Frage: „Wen interessieren denn noch diese Geschichten? Wir haben uns so an Gewalt gewöhnt. Gewalt jeder Art von der Zerstörung in unseren Straßen bis zu Flugzeugen, die bei Showereignissen den Zuschauern auf die Köpfe fallen. Was sollen da noch solche Geschichten?“ Squitieri antwortete: „Vor ein paar Jahren, als das koreanische Flugzeug abgeschossen worden war, saß ich vor dem Video und sah mir die Tagesschaufilme noch einmal an. Claudia kam rein und fragte: 'Schrecklich, was ist passiert, Pasquale?‘ 'Das ist die Tagesschau von vor drei Tagen.‘ 'Was ein Glück‘, sagte Claudia. Das ist Fernsehen. Es zerstört unser Gedächtnis. Jedes Bild löscht das vorangegangene aus. Eine Katastrophe löst die andere ab. Die Algen, Ramstein, usw. Es hängt alles davon ab, daß wir die Zeit anhalten. Daß wir uns klarmachen, was geschehen ist. Wir müssen rauskommen aus diesem Bildertaumel. Es gibt sicher Regisseure, die hätten einen besseren Film über die Bewegung von 1977, über den Terrorismus und den Staat machen können als ich. Aber sie machen es nicht. Statt dessen wird an einer Verfilmung von Manzonis „Verlobten“ gearbeitet. Dabei gibt es diese jüngste blutige Geschichte, die unser Zusammenleben in Frage stellt. Das sind die Themen, mit denen wir uns beschäftigen sollten. Das Geschlechtsleben Jesu, das ist doch kein Thema. Wen mit drei Gramm Gehirn interessiert denn so etwas?“

Arno Widmann

Nanni Balestrinis Roman „Die Unsichtbaren“ erscheint Ende September auf deutsch im Münchner Weismann Verlag