: Ungewohnte Brüderschaft
■ Die türkische Regierung nimmt 120.000 irakische Kurden auf / Aus dem Grenzgebiet Ömer Erzeren
Vor wenigen Tagen noch hatte Iraks Präsident seinen Vize -Außenminister nach Ankara geschickt. Seine Bitte: Die Türkei solle die 120.000 Kurden, die vor der irakischen Armee fliehen, nicht über die Grenze lassen. Doch Ministerpräsident Özal, der eigenen kurdischen Bevölkerung wenig freundlich gesonnen, machte die Grenzen auf und sprach jetzt sogar von einem „Massaker“ der irakischen Armee. Gestern bestätigte auch ein türkischer Arzt, daß bei der irakischen Offensive gegen die kurdischen Dörfer chemische Waffen eingesetzt wurden: Die verletzten Flüchtlinge weisen typische Symptome wie Hautverbrennungen und schwere Bindehautentzündungen auf.
Viele der Flüchtlinge gehören zu den rund 35.000 Peshmerghas - kurdische Rebellen, die an der Seite Irans gegen das Regime in Bagdad gekämpft haben - und deren Familien. Sie haben sich seit der vergangenen Woche in die Region von Cukurca auf ein etwa zwei Quadratkilometer großes Grenzgebiet geflüchtet. Einige von ihnen wollen bei türkischen Verwandten in dieser Region bleiben, andere warten an den Straßenrändern auf ihren Transport nach Hakkari, der Hauptstadt der Region.
Auch wirtschaftliche Repressionen, sagte Özal gestern, könnten die Türkei nicht daran hindern, ihren „humanitären Verpflichtungen“ nachzukommen. Wie die halbamtliche türkische Nachrichtenagentur 'Anatoli‘ meldete, sagte Özal unter Anspielung auf irakische Erdöllieferungen in die Türkei, diese habe politische und wirtschaftliche Fragen immer zu trennen gewußt.
Der Befehl aus dem Hauptquartier kam per Funk: „Die Flüchtlinge an dem Grenzpunkt Yekmal stehen unter Kanonenbeschuß. Die irakischen Soldaten stehen nur 500 Meter hinter der Grenze. Schicken Sie sofort Truppen her! Die Zivilisten sind von der Grenze abzuholen und weiter an einen sicheren Ort zu überführen. Wir dürfen nicht zulassen, daß die Irakis auf türkischem Gebiet auf die Flüchtlinge schießen.“ Der Funkspruch setzt im Militärlager Gülyazi, vier Kilometer von der Grenze entfernt, sofort eine Hundertschaft in Bewegung.
„Sie sehen doch, ich bin beschäftigt - ich werde die Truppe anführen.“ Der Grenzkommandant wimmelt uns ab. „Ihren Antrag auf Erlaubnis, an die Grenze zu fahren, habe ich weitergeleitet. Sie müssen leider warten.“ Kurze Zeit später rollt der Militärkonvoi an uns vorbei. Von Cizre, der letzten kleinen Stadt vor der irakisch-türkischen Grenze, hatte unser Taxi fünf Stunden gebraucht, um in das Militärlager zu gelangen: Eine Fahrt durch Staubwolken auf der Schotterstraße. Die Soldaten an den Straßensperren - das Maschinengewehr im Anschlag - waren die einzigen Menschen, die wir auf der Fahrt entlang der Bergmassive getroffen haben. Und nun das Warten in der Kaserne, zusammen mit den wenigen verbliebenen Offizieren und Soldaten. Die jungen Türken, die alle hier ihren Militärdienst ableisten, empfangen mich mit leuchtenden Augen: Endlich ein Istanbuler Zivilist, der ihre Sprache - türkisch - spricht. Sie fluchen über den Militärdienst mitten im kurdichen Gebirge, wo sie sich mit kaum jemandem verständigen können. Angefeindet von der Bevölkerung, bedroht von Anschlägen der kurdischen Guerillaorganisation PKK.
In panischer Angst
Ein Offizier weist auf den Bergkamm gegenüber: „Vor vier Tagen haben wir dort gestanden. Tausende Flüchtlinge standen an der Grenzlinie und wollten herüber. Es war ein schreckliches Bild. Die Frauen flehten uns an. Wir haben dann den Generalstab informiert. Den Flüchtlingen haben wir gesagt: 'Bleibt, wo ihr seid! Bis zu Grenze kommen die Irakis nicht.‘ Doch wir hatten uns getäuscht. Sie wurden beschossen. Auch auf unsere Truppe gingen Geschosse herunter. In panischer Angst liefen die Flüchtlinge auf unsere Seite. Wir hatten nur zwei Möglichkeiten: befehlsgemäß die Grenze abzusichern und auf sie zu schießen
-oder sie reinzulassen. Wie ließen sie rein. Sollten wir denn auf Frauen und Kinder schießen? Erst später - nach der Entscheidung der türkischen Regierung, die Flüchtlinge aufzunehmen - bekamen wir den Befehl, die Leute über die Grenze zu lassen. Glaube mir, einige der Soldaten haben geweint, als sie die Menschen sahen“.
Die Offiziere versuchen uns, den mehrstündigen Aufenthalt in der Kaserne so angenehm wie möglich zu machen. Tee und Essen inbegriffen. Für die Gäste gibt es sogar Coca Cola aus dem Militäretat. Nur mit Aspirin können sie nicht dienen. „Glaub mir, alle Arznei ist zu den Flüchtlingen. Wir haben kein einziges Medikament mehr. Jetzt meinen die da oben es wirklich ernst mit der Hilfe an die Flüchtlinge.“ Mittags kommt per Funk die Erlaubnis für uns. Einen Zettel muß ich noch unterschreiben: „Hiermit bestätige ich, daß ich darüber informiert wurde, daß Kanonengeschosse im Grenzgebiet niedergehen und nehme die Verantwortung für die etwaigen Folgen meiner Reise auf mich. Die Streitkräfte der Türkei sind nicht haftbar zu machen.“ Der Text gibt eine Information preis, die sonst offiziell verschwiegen wird: Die Irakis beschießen zuweilen auch türkisches Territorium.
Ein erstes Essen
Inmitten der grau getönten Gebirgslandschaft sieht man nach einer Biegung farbige Punkte, Tausende von Menschen in buntgemischter Kleidung sitzen um eine Wasserquelle. Aus der Nähe betrachtet herrscht bitteres Elend: Umringt von türkischen Soldaten haben sich die Flüchtlinge auf der bloßen Erde niedergelassen. Ein Dutzend Esel, ein halbes Dutzend Pferde, ein paar Decken. Es ist das armselige Hab und Gut der Tausende, die bereits vor einer Woche in die Türkei flüchteten und nun nahe des Dorfes Yemisli im Freien leben. Man kann diesen Ort nicht als Flüchtlingslager bezeichnen. Die wenigen Männer reißen die Bäume mit ihren Wurzeln aus, um Feuer zu machen. Die Erde wird von Steinen gesäubert und geglättet, damit jeder einen Schlafplatz bekommt. Alles mit bloßen Händen.
Heute gibt es erstmals etwas zu essen, ein Militärlaster hat Mehlsäcke verteilt. Ein Blech wird auf das Feuer gestellt, um Brot zu backen. Die Militärs stellen einen Tisch auf. Im Nu scharen sich Hunderte von Frauen und Kindern um den Tisch. Mit Zeichensprache und ein paar Brocken kurdisch versucht sich derweil der Militärarzt zu verständigen. Eine Tablette morgens - er weist auf die Richtung, wo die Sonne aufgeht, und führt die Tablette an seinen Mund. Ein Baby ist ins Feuer gefallen und hat schwere Verbrennungen. Plötzlich Aufregung: „Der Kleine stirbt, er muß sofort weg“, ruft der Arzt dem recht hilflos umherirrenden Kommandanten zu. Das Kind hat Glück. 15 Minuten später ist der Militärhelikopter da und fliegt mit drei weiteren lebensgefährlich Verletzten ins Krankenhaus. Die Verhältnisse stehen auf dem Kopf. Die türkische Armee, Freund und Helfer der Kurden.
Drei Männer unter mehreren Dutzend Frauen und Kindern. Eines der Menschenknäuel in der Flüchtlingsstätte. Die Männer: Abdülkabul, sein Sohn Mustafa und Mustafas Neffe Ömer. Sie kommen aus dem Dorf Ziroziro in dem Gebiet Zaho im Nordirak. „Es waren sechs Flugzeuge. Ohne Geräusch kamen die Bomben herunter, wir saßen gerade unter einem Baum. Ein dicker weißgelber Nebel umhüllte uns. Die Augen tropften, wir mußten uns erbrechen und bekamen Nasenbluten.“ Ziroziro gibt es nicht mehr. Der Chemietod hat das Leben im Dorf ausgelöscht. Die irakischen Bomber haben auch den beiden kleinen Söhnen Mustafas, dem siebenjährigen Yusuf und dem zwölfjährigen Halit, den Tod gebracht. Insgesamt 14 Tote hat die Familie zu beklagen. Ihre Existenzgrundlage - den Weizen und die 150 Schafe - haben sie zurückgelassen, neun Pferde sind ihnen auf der Flucht verendet. Mit acht Kalaschnikows und neun Pferden kamen sie über die Grenze. Die Waffen haben sie an die türkische Armee abgegeben. „Saddam Hussein betreibt eine Menschenschlächterei. 15.000 kurdische Helden sind dabei gefallen“, sagt Abdülkabul.
Osman, ein Mann in mittlerem Alter, ist politischer Sprecher und auch Stammesführer. Seine Rede ist ausgefeilt: Die Verbrechen des Saddam-Regimes. Der Einsatz der Chemiewaffen. Die Dankesworte an die türkische Regierung. Die Brüderschaft des kurdischen und türkischen Volkes. Ich frage, was nach der katastrophalen Niederlage der kurdischen Guerilla-Truppen unter Barzani passierte. Werden sie sich anderen kämpfenden kurdischen Organisationen anschließen? „Der Kampf der Demokratischen Partei Kurdistans geht weiter. Wir kämpfen nur unter der Fahne Barzanis oder gar nicht“, erhalte ich zur Antwort.
Vor Einbruch der Dunkelheit schickt uns der Kommandant auf den Rückweg. Die Militärpatrouillen werden über Funk informiert. An jeder Straßensperre wird unser Auto diesmal durchgewunken. Nur die Soldaten einer Kontrollstation halten uns an. „Ihr seid doch von der Presse. Sechs Jungs von uns sollen an der Grenze verletzt worden sein. Es sind Kameraden von uns. Wißt Ihr was darüber?“ Wir wissen nichts.
Das Erdölgeschäft
mit Irak blüht
Zurück in Cizre am Tigris, einer kurdischen Stadt mit 45.000 Einwohnern. Das einstmals blühende Handelszentrum an der Seidenstraße stinkt. Tausende von Tanklastwagen mit Erdöl, die aus dem Irak kommen, passieren die Stadt oder rasten hier. Jede Minute rollt ein Laster an der Hauptstraße vorbei. Die Erde hat sich mit Erdöl vollgesaugt. In illegale Depots entlang der Strecke lassen die Fahrer einen kleinen Teil der Ladung ablaufen. Zollfreies, schwarzes Erdöl. Das Geschäft blüht. Das Handelszentrum ist geblieben. Hotels, Kaffeehäuser, Raststätten. Kleinkinder in Lumpen verkaufen Marlboro auf der Straße.
Mit dem Öl kommt der irakische Dinar und die zollfreien Marlboro. In heruntergekommenen einstöckigen Läden werden Devisengeschäfte in Millionenhöhe abgewickelt. Mit dem Waffenstillstand im Golfkrieg begann das Saddam-Regime die Massaker an der irakisch-kurdischen Bevölkerung. Mit dem Waffenstillstand begann zugleich in Cizre der Höhenflug des irakischen Dinar. Ein Dinar wurde vor einem Monat noch gegen 600 türkische Lira gewechselt, heute bekommt man dafür 1.500 türkische Lira.
Für die kurdische Bevölkerung in der Region ist die türkische Armee ein Besatzerheer. Keiner macht einen Hehl daraus, daß der türkische Staat sein Feind ist. Erst vor vier Tagen wurde eine Frau aus dem Dorf Kerascha von türkischen Soldaten vergewaltigt, als sie Wäsche im Tigris waschen wollte. Rund 300 Kurden zogen daraufhin aus dem Dorf vor das Landratsamt in Cizre und forderten die Bestrafung der Soldaten. „Wir sind nicht zuständig“, hieß es dort, „geht zum Gouverneur in der Provinzhauptstadt Siirt!“ Die Kurden zogen weiter nach Siirt, über hundert Kilometer entfernt.
„Özal - ein großer Mensch“
Rund 70 Männer verfolgen im Kaffeehaus gebannt die Nachrichten. Die Sprecherin redet von „irakischen Staatsbürgern“, die in die Türkei flüchten. Kurden gibt es offiziell in der Türkei ja nicht. Der türkische Ministerpräsident Özal erscheint im Bild. Er ist verbindlicher in der Wortwahl als die Nachrichtensprecherin: „Die Menschen, die zu uns kommen, sind Angehörige eines Volkes, unter dem es auch Bürger der türkischen Republik gibt.“ Indirekt wird die Existenz des kurdischen Volkes somit zugegeben. „Wir haben selbst -“, Özal korrigiert sich, „wir haben auch die Juden, die vor 500 Jahren in Europa verfolgt wurden, aufgenommen.“
Nur anerkennende Worte erntet Özal unter der in Cizre versammelten Runde der Kurden. „Özal ist ein großer Mensch.“ - „Özal ist wagemutig und menschlich.“ - „Unter den früheren Regierungen wäre so etwas nicht denkbar gewesen. Aber Özal ist tapfer.“ Ein alter Mann lächelt mich an. „Weißt du, was ich glaube? Özal ist selbst Kurde. Aber er darf es nicht direkt sagen, weil er großer Regierungsmann ist.“
Die linken kurdischen Intellektuellen, die ich später in Diyarbakir treffe, ziehen bereits politische Konsequenzen aus der Tragödie im Nordirak: „Die Demokratische Partei Kurdistans mit Mesut Barzani an der Spitze hat sich auf das Khomeini-Regime verlassen. Jetzt, nach dem Waffenstillstand, sind sie kaputt und müssen sich bei der Türkei anbiedern. Es gibt ein altes kurdisches Sprichwort: 'Sawaro Gelko her Payane‘: Wer das Pferd eines andern besteigt, muß zum Schluß zu Fuß laufen.“
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