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Universum in Grau: Fabrik

■ Leslie Kaplans 97-Seiten-Fabrikgedicht „Der Exzess“ (1982) liegt seit kurzem in deutscher Sprache und auch da noch in all seiner Wahrheit vor / Und: Leslie Kaplan liest nächste Woche in Bremen

Der kleine Band „L'Exces - l'usine“, der 1982 in Paris erschien, bedeutete für Leslie Kaplan den literarischen Durchbruch. Nicht zuletzt Marguerite Duras und Maurice Blanchot befaßten sich mit dem Erstlingswerk und bereiteten der damals unbekannten Autorin eine gleichsam königliche „entree en litterature“. Leslie Kaplan gehört neben Phillipe Djian, Francois Bon oder Jean Echenoz zu Frankreichs neuer Autorengeneration, die - wie die Literaturkritikerin Marianne Alphant bemerkt - „durch den Nouveau Roman lesen gelernt hat“ und erst Anfang der 80er Jahre zu schreiben begann. 1987 veröffentlichte Kaplan ihr inzwischen viertes Buch, den Roman „Le Pont de Brooklyn“. Was aber die sowohl thematische als auch sprachliche Herausforderung angeht, überragt immer noch ihr erstes Werk, das seit kurzem unter dem so lapidaren wie abstrakten Titel „Der Exzess“ in deutscher Sprache vorliegt. „Der Exzess“ oder : Es gibt für die Literatur kein abgenutztes Thema. Man staune über die Ressourcen des Sehens. „Der Exzess“: 97 Seiten, 9 Kreise (statt Kapitel) um einen Ort: „l'usine“, die Fabrik.

Neunmal hat Leslie Kaplan den Ort der Arbeit eingekreist, neun

mal um das „Universum Fabrik“ den zähen, gebrochenen Fluß ihrer Sätze gezeichnet. Sie hat dort gearbeitet, sie weiß, wovon sie spricht. Sie schreibt: „Sie ist da, ganz und gar, Teile und Stücke. Die Fabrik. Keine Richtung, sie kreist. Und hinaufsteigen und hinuntersteigen und nach rechts und nach links und aus Blech und aus Ziegel und aus Stein und die Fabrik. Und Klänge und Lärm. Keine Schreie. Die Fabrik...“.

Es gibt keine Geschichte, kein Ich, keinen Halt in Leslie Kaplans Buch, nur den Ort Fabrik. Und die Sätze kreisen, nackt, sperrig, präsent wie Blech, wie Stein, werden vervielfältigt wie Teile, wie Stücke. Fabrikkreislauf und Schreibweise fallen zusammen. „Alles kehrt unaufhörlich zurück“: „Dinge und Dinge und Dinge“, Leute wie Sätze wie Dinge. Nie wirkt dieses Wiederholverfahren künstlich. Kaplans Fabrik ist riesig, hat weder Anfang noch Ende, besetzt alles: „Universum Fabrik“. Der Vorort, das Cafe, der Schleppkahn, der Fluß, das Leben sind Teile davon. Selbst das Baby ist grau. „Die Straße ist eine Straße unter dem Himmel der Fabrik“. Kein Schrei zerreißt den Himmel, unterbricht den Kreis, erschüttert das parzellierte Leben: „Man ist

gebannt“. Hölle Fabrik.

„In der Fabrik kann man sehen,...kann man nichts sehen“, sagt Leslie Kaplan in dem im Anhang abgedruckten Gespräch mit Marguerite Duras. Die endlose Fabrik ist ein endloser Film, den man zu sehen verurteilt ist. Leslie Kaplan hat diese für sie wesentliche Fabrikerfahrung in ihrem Buch adäquat übersetzt, indem sie sowohl auf eine lineare, kapitelgeteilte Form als auch auf jeglichen Diskurs verzichtet. 10 Jahre habe sie gebraucht, um etwas sagen zu können, das nicht anekdotisch sei, nicht das Elend verkläre. Das Ergebnis ist ein dichter Text, der entlang seinen neun Kreisen konsequent nichts erzählt, sondern leidenschaftlich kreuz und quer durch die „Masse Fabrik“ sieht. Ein Text, der sich dem Sehen ausliefert.

Die Konformität zwischen Schreibprozeß und Erleben der Fabrik fasziniert. Kompromißlos nimmt Kaplan den subjektlosen Standpunkt der Arbeiterin ein, den sie „die Perspektive des Abwesendseins“ nennt: „Man“. Nur so kann sie das aufschreiben, was für sie den Schrecken der Fabrik ausmacht und die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion verwischt: Das exzessive Dasein von Raum und Materie und

gleichzeitig die exzessive Abwesenheit der Arbeiterin von sich selbst - den EXZESS. Nur dann sind Sätze möglich wie: „Der Raum, der Raum tötet“, „Die Dinge sind, gegensätzlich, unwirklich, wirklich“, „Straße ist da“, „Das Unendliche ist da. Man schaut“. Oder die erstaunliche Gleichung: „Gott existiert, die Fabrik“.

Der Exzess stellt die ganze realistisch-sozialistische Literatur der letzten 50 Jahre in Frage“, behauptet Marguerite Duras. Fest steht, daß Leslie Kaplan einen eigenwilligen Zugang zu einem Gegenstand gefunden hat, der längst totgesprochen zu sein schien. Ihr Buch inszeniert weder Arbeiterkämpfe noch Arbeiterbiographien noch behandelt es literarisch das Verhältnis zwischen Mensch und Arbeit oder Mensch und Maschine zu einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Land. Kaplans Fabrik stellt keine Bezüge her, sondern demonstriert absolute Beziehungslosigkeit. Leute, Dinge und Sätze scheinen im Raum zu schweben. Kaplans Fabrik ist ein „freischwebender Ort“, der jedem Aufstand den Boden entzieht: eine Gewalt ohne Gewalt, ein Tod ohne Tod. Sie ist ein verrückter Ort - zwischen Geschichte und

Mythos, Wirklichkeit und Fiktion. Fabrikerfahrung wird wie selbstverständlich zum fast metaphysischen Erlebnis.

Zu einer Zeit, da Reduktionsmethoden in der Literatur florieren, ist es müßig, die Knappheit und Materialität von Kaplans Sprache hervorzuheben. Das sagt zu wenig von Kaplans Buch, von der unwiderlegbaren Wirklichkeit als Fiktion, kurz: von seiner Wahrheit. Ich meine, dieses Buch wurde in einer Art Gandenzustand geschrieben. Leslie Kaplan sagte es einmal so: „Lyrik ist ein Zustand des Staunens“.

„Der Exzess“ ist ein Gedicht. Wer sich neunmal einkreisen läßt, erkennt sie: die tötende Ordnung der Dinge. Die Fabrik.

Hier sei die solide Übersetzung von Christiane Baumann und Gisela Lerch erwähnt, die der Intensität des Originaltextes in Nichts nachsteht

Zum Schluß eine Bemerkung zum Anhang: Marguerite Duras hin, Marguerite Duras her - wie irritierend doch ihr überzogener Sprachgestus, wie der Nacktheit des Fabrikgedichts unangemessen. Eine Inkonsequenz. Die einzige.

Sonia Nowoselsky-Müller

Leslie Kaplan liest aus „Exzess“ am Montag (12.9.) um 20 Uhr im Institut Francais (Contrescarpe).

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