Der rote Mund

■ Marion Hänsels neuer Film „Barbarische Hochzeit“

Am Anfang nur Geräusche. Wellen schlagen an die Schiffswand, das Wrack knarrt in den Scharnieren, Möwen, Wind; ein gottverlassener Ort. Denkt man. Bis man registriert, daß das, was da klopft, vielleicht doch von Menschenhand stammt. Und daß sich im Möwengekreisch auch eine Stimme ausmachen läßt. Ein Summen.

Langsam fährt die Kamera an der Schiffswand hoch. So langsam, als fürchte sie eine grausame Entdeckung. Doch die kommt erst viel später. Die Schiffswand, oder besser: die Wand einer am Strand vergessenen ausrangierten Bohrinsel, ist rostig, der Lack abgeblättert - das gibt einen schönen Farbton auf der Leinwand, dazu die Geräusche. Man riecht förmlich den Rost, das Salz und den Schimmel.

Ein Junge sitzt auf dem Deck und zimmert sich aus Strandgut einen Briefkasten zusammen. Er hat strubbeliges Haar und trägt einen dicken, abgewetzten Pullover. Ein sanftes Gesicht, ein nach innen gewendeter Blick. Da der Blick ins Gesicht des Jungen keine Geschichte enthüllt, nehmen wir seinen Blick ein, Richtung Ufer. Da steht jetzt der Briefkasten, der Junge schreibt Liebesbriefe - seine Stimme aus dem off - und wartet auf Antwort. Ja, er hat eine Geliebte. Eine rothaarige Schöne, das Mädchen Nicole. Seine Mutter.

Eine Liebesgeschichte also, eine altmodische, romantische Angelegenheit. Die Farben auf der Leinwand sehen plötzlich aus wie koloriert, die Bilder vergilbt. Die Geschichte spielt vor ewigen Zeiten. Die Kamera nimmt die Spur auf, wie eine Archäologin. Entdeckt die Kindheit des Jungen. Der kindliche Darsteller hat denselben nach innen gewendeten Blick wie später der große. Eine Kindheit auf dem Lande, im Spießbürgermuff, in der dörflichen Enge. Vielleicht sehen die Bilder deshalb so hoffnungslos altmodisch aus. Damit man sieht, wie muffig es riecht.

Keiner will den Jungen haben, deshalb wird er auf dem Speicher versteckt. Keiner spricht mit ihm, deshalb kann er nicht sprechen. Keiner liebt ihn, deshalb sagt er nicht Mutter. Ein Wolfskind. Aber ein sanftes.

Die schöne Nicole besucht ihn heimlich und erzählt ihm ein Märchen. Der Wolf und die sieben Geißlein. „Sie gingen zur Tür, legten das Ohr dagegen und horchten.“ Da wissen wir noch nicht, daß sie seine Mutter ist. Dann kommt die Großmutter und kneift dem Jungen ins Ohr. Großaufnahme. Später wird das Kind, es heißt Ludovic, an der Tür stehen und horchen: Er soll in die Irrenanstalt. Da wissen wir: Das ist seine Mutter. „Warum hört man dich nie kommen?“ fragt sie. Das erträgt sie nicht, sie erträgt sein Schweigen nicht. Deshalb hört man so viel in diesem Film.

Die roten Haare. Ludovic malt sie an die Wand seines Zimmers, später an die Wände der Anstalt. Die roten Lippen. Nicole malt sie an, mit zitternden Händen, das sieht ein bißchen frivol aus und als ob sie immer noch siebzehn sei. Das Zittern kommt vom Alkohol. Aber nicht nur. Sie steckt sich eine Zigarette in den angemalten Mund, man hört ihre Lippen förmlich beben. Und sie erzählt. Von früher, als sie siebzehn war. Drei Soldaten haben sie vergewaltigt.

Marion Hänsel zeigt die Vergewaltigung. Aus der Sicht Nicoles. Sie hat recht, daß sie sie zeigt. Daß sie uns den Anblick zumutet. Und doch macht sie einen Fehler: Die Art, wie Nicole sich die Lippen anmalt, erzählt mehr von ihrer Jugend und wie grausam sie zerstört wurde als jede Rückblende. Nicht die Erinnerung, der rote Mund ist die grausame Entdeckung.

Marion Hänsel traut ihren Bildern nicht. Dabei hat sie es nicht im geringsten nötig: Besser als die meisten ihrer männlichen Kollegen ist sie allemal.

Christiane Peitz

Marion Hänsel: Barbarische Hochzeit. Nach dem Roman von Yann Queffelec, mit Thierry Fremont, Marianne Basler. Belgien 1987, 100 Min, OmU.