Sprache ist alles

■ Zum Tod der französischen Psychoanalytikerin Fran?oise Dolto

Ich empfand den Erwachsenen gegenüber nie das Gefühl, ich müßte sie tadeln. Ich stellte nur das Merkwürdige an ihnen fest. Ich sagte nicht, daß sie richtig oder falsch gehandelt hätten, ganz bestimmt nicht. Ich warf ihnen eigentlich nichts vor, denn ihr Verhalten war selbstverständlich, sie waren nun mal so, es entsprach ihrer Art. Nur fand ich sie einfach seltsam. Ich fragte mich, wie das nur möglich war, daß die gleichen Leute, die früher klein und dann groß geworden waren, so seltsam sein konnten, da sie auch einmal Kinder gewesen sind. Und ich sagte mir: 'Wenn ich größer bin, werde ich versuchen, mich daran zu erinnern, wie es ist, wenn man klein ist.'“

Als ich Fran?oise Dolto im Herbst letzten Jahres zum letzten Mal besuchte, um mit ihr die Veröffentlichung der Übersetzung eines Buches zu besprechen, war ich, wie schon so oft vorher, von ihren Augen fasziniert - Kinderaugen. Vielleicht war es das. Was sie zu Frankreichs wohl berühmtester Kinderanalytikerin hatte werden lassen, war ihre spontane Fähigkeit, die Kinder so zu sehen, wie sie sind, ihnen aus ihrer, d.h. der Kinder Perspektive, ein Spiegelbild anbieten zu können. Einem hysterisch blinden Mädchen beim Eintritt in die Praxis sagen zu können: Du siehst, so, daß das Mädchen es ihr auch glaubt und nach einer Reihe von Behandlungsstunden wieder sieht, weil es bei Fran?oise Dolto lernte, sich wieder sehen zu können.

Sich als Analytikerin daran zu erinnern, wie es ist, wenn man klein ist, aus dieser, ich möchte fast sagen, genialen wie einfachen Haltung heraus praktizierte Fran?oise Dolto, die am 25.August fast achtzigjährig starb, die Psychoanalyse.

Sicher, sie war die letzten Jahre von ihrer schweren Lungenkrankheit gezeichnet, aber dennoch arbeitete sie weiter, noch am Tag vor ihrem Tod, jetzt mit autistischen, zu früh auf die Welt gekommenen Kindern, Babys, mit denen sie sich unterhielt. Und in diesem Sprechen lag wohl das andere Geheimnis ihres außergewöhnlichen therapeutischen Erfolges: „Die Sprache ist alles“, so ihre Grundüberzeugung und der Titel ihres letzten, in Frankreich erschienenen Buches.

Schon vor seiner eigentlichen Geburt lebt der Fötus in einer, freilich durch die Mutter noch abgeschirmten Sprachwelt, vernimmt die Stimmen derer, die ihn empfangen und bei seiner Geburt von ihm sprechen werden, ihm seinen Namen nennen, sein Geschlecht und alle seine Gesten in Worte kleiden, traurige, teilnahmslose oder glückliche, solange, bis das Kind selbst beginnt, sich in dieses Sprachmuster, das schon vorher existiert hat, einzuflechten. Als Bedingung, zum anderen zu gelangen und gleichzeitig als Hindernis: ohne Sprache kein Begehren. „Was ich erreichen will“, sagte Fran?oise Dolto, „besteht darin, die Eltern darüber zum Nachdenken zu bringen, daß das größte Leid des Menschen darin liegt, mit anderen nicht zu kommunizieren“, woraus sie einen Grundsatz für die Psychoanalyse ableitete: „Die Psychoanalyse hat den Beweis erbracht, daß das Kind, wie klein es auch sei, das Verständnis des Sinns der Worte hat, welche sein Auf-der Welt-Sein betreffen. Den Beweis auch, daß das Sprechen den Menschen befreien kann, wenn es ihm gelingt, dadurch jemanden, der ihm mit Aufmerksamkeit und ohne Werturteil zuhört, sein Leiden auszudrücken.“

Fran?oiose Dolto wurde am 6.November 1908 geboren. Eingesperrt in eine engstirnige und strenge bürgerliche Familie, tritt sie schon früh die Flucht in sich selbst an. Bereits mit fünfeinhalb Jahren beschließt sie, „Erziehungsärztin“ zu werden. Der Grund: Ihr Bruder, selbst unter der unerträglich häuslichen Atmosphäre leidend, klaut dem Kindermädchen Kölnisch Wasser und Whisky und trinkt beides zusammen. Der Arzt aber behandelt ihn 'konventionell‘: eine Magenverstimmung, ein Infekt, usw. Fran?oise Dolto hat begriffen: Es gibt „Krankheiten, die gar keine echten Krankheiten sind“. Auf ihre Chance, von zuhause wegzukommen, muß sie noch zwanzig Jahre warten, denn ihre Eltern gestatten ihr erst in diesem Alter zu tun, was sie will. Und gegen den erbitterten Widerstand ihrer Mutter, die sie sofort vor die Tür setzte, und ohne einen Sous Unterstützung läßt sie sich 1933 als eine der wenigen Frauen in das Fach Medizin einschreiben. Zur Psychoanalyse kommt sie noch zu Lebzeiten Freuds, „weil ich verrückt geworden war“. Sie begann eine Analyse wegen der Schuldgefühle, die ihre Mutter ihr beim Tod ihrer Schwester im Alter von elf Jahren eingeimpft hatte: Sie habe zu wenig für die Schwester gebetet ... So wurde Fran?oise Dolto zur Pionierin der Kinderanalyse. Ihre 1939 abgeschlossene Dissertation „Psychoanalyse et Pediatrie“ (in den sechziger Jahren bei Suhrkamp erschienen) kommentierte ihre Mutter mit den Worten: „Es ist widerlich, eine Doktorarbeit über die Psychoanalyse zu schreiben. Freud war ein übler Kerl.“

Fran?oise Dolto ging ihren Weg unbeirrt weiter, und immer blieb es ihr Weg, auch in der L'Ecole Freudienne de Paris bei Jacques Lacan, den sie bis zu seinem Tod verehrte, dem sie aber nicht in allen Dingen folgte, auch wenn sein Einfluß auf ihr Werk unverkennbar ist. Sie publizierte zahlreiche Bücher, die zum größten Teil auch in deutscher Sprache erschienen. Berühmt wurde sie aber vor allem durch eine Rundfunksendung über mehrere Monate hinweg bei France -Inter, bei der besorgte Eltern Fragen an sie richten konnten. „Die einzige Analytikerin, deren Sprache für alle erreichbar war“, schrieb die 'Le Monde‘ in ihrem Nachruf, eine Art „ideale Großmutter für alle Franzosen“. Fran?oise Dolto konnte es in einem Supermakt in Paris passieren, daß eine Dame sie ansprach und sagte: „Mein Kind schwänzt die Schule, Madame Dolto, wissen Sie einen Rat?“ Und Fran?oise Dolto wäre stehengeblieben und hätte gesagt: „Reden Sie mit ihrem Kind über alles und sagen Sie dem Direktor, daß es zur Zeit nicht in die Schule gehen kann.“ Immer kam es ihr darauf an, die psychischen Konflikte der Kinder den Eltern gegenüber zu dedramatisieren: „Wissen Sie, wenn sich ein Kind auf der Schule langweilt, ist dies doch ein Zeichen für seine Intelligenz.“

Für sie hatte alles, die größten Verrücktheiten oder das absonderlichste Verhalten eines Kindes, einen Grund. Ein Grund, den es in der Analyse nicht gilt, 'positivistisch‘ zu ermitteln, zu diagnostizieren, sondern zu sprechen. Fran?oise Dolto war sicherlich auch Theoretikerin der Psychoanalyse, aber vor allem praktizierte sie die Psychoanalyse, weshalb auch viele ihrer Bücher in Dialogform geschrieben sind.

Obwohl von ihrer Persönlichkeit und ihren Überzeugungen keinesfalls eine „Rebellin“, wurde sie vom orthodoxen Establishment der Psychoanalyse stets mißtrauisch behandelt, und man verweigerte ihr sämtliche verantwortlichen Posten in der 'Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung‘ seit den sechziger Jahren. Ich selbst hätte sie gerne nach Deutschland eingeladen, aber zum Schluß war sie zu krank. Vielleicht aber wollte sie auch nicht - eine offizielle Einladung einer der Psychoanalytischen Institutionen hat sie meines Wissens nach niemals erhalten. Maud Mannoni schreibt zur Ablehnung Fran?oise Doltos durch die orthodoxe Psychoanalyse: „Die männlichen Analytiker, außer Lacan, fürchteten die Wahrheit, die aus dem Munde dieser Frau kam, die ein Genie war, sehr dicht an dem ermordeten Kind, das in ihr weiterexistierte.“ Und Fran?oise Dolto: „Die Psychoanalytiker fürchten sich sehr vor den Kindern. Einer von ihnen sagte mir sogar einmal, wenn man anfangen würde, sich mit den Kleinen zu beschäftigen, gäbe es keine kranken Erwachsenen und folglich keine Klienten mehr.“ Fran?oise Dolto ist tot. Es bleibt zu hoffen, daß die Psychoanalyse, die sie meinte, weiterlebt.

Claus Koch

Claus Koch hat mehrere Bücher Fran?oise Doltos ins Deutsche übersetzt und bei 'Quadriga‘ herausgegeben

Lieferbare Bücher von

Fran?oise Dolto:

Enfances - Erinnerungen in die Kindheit, Quadriga 1987, 42 DM

Die ersten fünf Jahre, Beltz 1986, 24.80 DM

Wenn die Kinder älter werden, Beltz 1987, 24.80 DM

Praxis der Kinderanalyse, Klett-Cotta 1985, 38 DM

Psychoanalyse und Kinderheilkunde, Suhrkamp 1973, 26 DM

Das unbewußte Bild des Körpers, Quadriga 1987, 48 DM

Über das Begehren, Klett-Cotta 1988, 38 DM

Zwiesprache von Mutter und Kind, Kösel 1988, 29.80 DM