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SPD überholt Realos grün

Zweiter Tag der Haushaltsdebatte in Bonn / Oppositionschef Vogel lobt Umweltschutzbewegung der Republik / Grüne auf dem Weg zu den Jusos der 90er Jahre / Kohl verteidigt sozialliberale Außenpolitik  ■  Von Max Thomas Mehr

Berlin (taz) - Mit einer bemerkenswerten, weil grünelnden Rede und heftiger Kritik an der Bundesregierung begann am Mittwoch der sozialdemokratische Parteivorsitzende Hans Jochen Vogel den zweiten Tag der Haushaltsdebatte im Bundestag. Auffallend an seiner Kritik der Bundesregierung war dabei vor allem die strukturelle Identität seiner politischen Argumentation mit Positionen, wie sie die Grünen in vielen Politikfeldern auch vertreten. So lobte er die Umweltschutzbewegung der Republik, die wesentlich dazu beigetragen habe, daß sich das Bewußtsein in Sachen Umweltschutz in allen politischen Parteien immens verschärft habe.

Vogel, der am Machtbewußtsein seiner Partei keine Zweifel aufkommen ließ, warf in seiner einstündigen Rede der Kohl -Regierung vor, die einschneidendste Einkommensumverteilung „von unten nach oben“ in der Geschichte der Republik erreicht zu haben. Scharf kritisierte er die unzureichenden Erfolge im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Das von der SPD vorgeschlagene Programm zur Schaffung von Arbeitsplätzen durch Investitionen in den Umweltschutz wäre finanzierbar gewesen, wenn Kohl nicht das Geld für Steuergeschenke an Hochverdienende verpulvert hätte. Das Regierungsbündnis werde derzeit nicht mehr durch gemeinsame Perspektiven, sondern nur noch durch die Angst vor dem Machtverlust zusammengehalten. Ob es in seiner Rede um Investitionen in den Umweltschutz oder um Energiesteuern ging, Vogel zeigte sich ganz auf Modernisierungskurs und verteidigte offensiv den Streit in der eigenen Partei um die richtigen Antworten auf Krise und Wandel der Industriegesellschaft.

In der Außenpolitik, vor allem in der Ost-West-Politik warf Vogel dem Kanzler Konzeptionslosigkeit vor. Ausdrücklich verteidigte der SPD-Politiker dagegen Genschers Fortsetzung sozialliberaler Ost-Politik. Geschickt dividierte Vogel die Regierung auseinander, verteilte Tadel und Lob. Bundeskanzler Kohl wies die Lagebeschreibung Vogels pauschal als „übliches Katastrophenszenario“ zurück und unterstellte Vogel „sozialistische Neidkomplexe“, um dann im wesentlichen zur Außenpolitik unumstrittene Gemeinplätze zum besten zu geben. So konstatierte er etwa, daß die Sowjetunion mehr als früher zur Abrüstung bereit sei. Er hoffe auch, bei seinen Gesprächen mit Gorbatschow im Oktober „eine neue Qualität der Beziehungen“ zu Moskau zu erreichen. Die grüne Fraktionssprecherin Christa Vennegerts, eher zu den Realos zählend, widmete sich neben ihrer Kritik an der Regierungspolitik dem SPD-Vize Oskar Lafontaine: seine Vorschläge zur Verlängerung der Maschinenlaufzeiten und zur Wochenendarbeit seien eine „gefährliche Entwicklung“. Genausowenig wie Hubert Kleinert am Vortag schaffte sie es, ein sich von der SPD tatsächlich unterscheidendes Verhältnis zur Umweltpolitik als welthistorischer Frage zu entwickeln. Man kann sich angesichts solcher Reden des Eindrucks nicht erwehren, daß die Grünen zu den Jusos der 90er Jahre verkommen. Die SPD hat zumindest eines erreicht: die Realos bei den Grünen sind völlig abgetaucht und in die Defensive gedrängt.

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