Volkes Stimme am Sielwall-Eck

■ „Interessengemeinschaft Ostertor“ rief, und BürgerInnen, Junkies und Punkies debattierten mitten auf der Sielwall-Kreuzung / „Arbeit in Euren Läden“ gefordert / „Verschärfte Betreuung“ angeboten

Beim Friseur hatten gestern morgen einige ältere Ostertorsche Damen vorsichtshalber beschlossen: „Heute nachmittag gehen wir aber nicht auf die Straße!“ Alle anderen aber waren da: Zu einer „Diskussions-Veranstaltung“ direkt an der Siewall-Kreuzung, da, wo Punkies und Junkies

sich treffen, hatte die „Interessengemeinschaft Ostertor“ eingeladen, in der sich Geschäftsleute und AnwohnerInnen zusammengeschlossen haben. Rund 400 BremerInnen standen auf Straße und Bürgersteigen, lehnten aus den Fenstern und nahmen am Spektakel teil, zwischen dem

Spritzenautomaten des Vereins Kommunale Drogenpolitik und dem Trachtenmoden-Geschäft gleich an der Ecke.

„Probleme am Sielwall? Wir haben hier die Probleme!“ meinte bündig einer von dreien, die mit Würfeln auf dem Pflaster saßen, zur taz. Für die Interessenge

meinschaft Ostertor kletterte Haushaltswaren-Caesar aufs Podium und schilderte, was den Geschäftsleuten stinkt: Gehwege, Haltestellen, Geschäftseingänge seien „belegt“, KundInnen würden von den Junkies „angebettelt, belästigt und bedroht“. In ihrem Flugblatt hatte die Interessengemeinschaft gefunden, daß „die Zustände am Sielwall eine Dimension erreicht haben, die das bisherige Tolerieren in Frage stellt“. Caesar stellte drei Forderungen: das Therapieprogramm „konsequent umzusetzen“, bei der Drogenberatung 'Drobs‘ Stellen aus-und nicht abbauen, und: „Die uniformierte Polizei muß hier ständig präsent sein!“ Pfeifkonzert. Das mit der Polizei wurde in der Diskussion von niemandem mehr wiederholt. Zwei Frauen hielten ein Transparent hoch: „Kriminalisierung mehr Tote“.

Ein Anwohner aus der Schildstraße guckte vom Podium auf die bunten Haare, die Sektflaschen und Lederjacken und appellierte: „Das hier - das haben wir jeden Tag, die in Schwachhausen nicht! Wir haben uns für unser Häuser hier auch abgeschuftet - helft uns!“ Ulrike Schreiber, die für die CDU im Beirat Mitte sitzt, fand es „ganz ganz toll, daß sowas hier möglich ist“ und machte den jungen Leuten Mut, mit ihren Sorgen ins Ortsamt zu kommen. Niemand sollte „zu was gezwungen werden - es geht darum, daß die Betreuung extrem verschärft wird!“

Die grüne Referentin Karoline Linnert wurde drastisch: „Ihr wißt alle, daß Heroinabhängige den Tag nur mit Kriminalität überstehen!“ Daß der Spritzenautomat vom Verein KomDropo zur Aids

Prävention aufgestellt worden war, erklärte Helmut Oppermann und forderte für die Drogenabhängigen „Wohnungen statt elender Unterkünfte, ein Methadon-Programm und medizinische Versorgung: Drogenkonsum muß nicht so menschenunwürdig sein!“

Hand in Hand standen mitten in der Menschenmenge acht kleine türkische Mädchen und hörten gespannt zu, was eine adrette junge Frau zu sagen hatte: „Ich bin ein Bürger, der hier täglich arbeitet - wenn Ihr wenigestens mal Euren Dreck wegmachen würdet! Ihr könnt alle bleiben - aber nicht vor den Geschäften die Kunden anbetteln. Wir müssen unser Geld schließlich auch verdienen - durch Arbeit!“ Das war nun gerade das Stichwort. „Dann gebt uns doch Arbeit!“ verlangte angefaßt eine Punkerin, „kriegen wir Jobs in Euren Läden?“

Auf die Seite der Flugblatt-„Anwohner“ wollte sich Anwohner Herbert Bannas aus der Weberstraße nicht stellen. Er fand, daß die „relativ Begüterten“ mehr und anderes zu tun hätten als Flugblätter zu drucken, „medienträchtige Aktionen“ zu organisieren und nach der Polizei zu rufen. Er schlug den Geschäftsleuten vor, Räume im Viertel und Betreuung zu finanzieren: „Die Interessengemeinschaft kann zwar einen Straßenfeger bezahlen, der den Müll zusammenfegt, aber keinen Sozialarbeiter!“ Als nach einer Stunde offiziell Schluß und die Stimmung immer noch gut war, als alte Herren in Schlips und Anzug und buntgefärbte Punks im Gespräch waren, zeigte sich die Interessengemeinschaft Ostertor zufrieden: „Jetzt soll sich der Senat mal rühren!“ Susanne Paa