Vom Genlabor frisch in die Umwelt

In Hannover darf ohne öffentliche Erörterung eines der größten Genlabors Europas gebaut werden / Der Austritt von gefährlichen Viren in die Umwelt kann nicht verhindert werden, die Genehmigungsbehörde ist zur Aufsicht nicht in der Lage und die Gen-Lobby darf sich selbst kontrollieren  ■  Von Stefan Schellenberg

Hannover (taz) - 31.August 1988, 14 Uhr. In genau zehn Stunden tritt die Verschärfung des Bundesimmissionsschutzgesetzes zur Genehmigung gentechnischer Anlagen in Kraft, die eine öffentliche Auslage des Vorhabens dringend vorschreibt. Im niedersächsischen Gewerbeaufsichtsamt setzt Dr.Hermann Franke seine Unterschrift unter den Genehmigungsbescheid für eines der größten und umstrittensten Genlabors in Europa. Streßreiche drei Monate liegen hinter ihm, aber das Rennen ist geschafft. Ohne ein öffentliches Verfahren darf die US -Firma Invitron in Hannovers Medical Park ein Genlabor bauen. Das niedersächsische Gewerbeaufsichtsamt und die Stadt Hannover gehorchten den Wünschen der amerikanischen Investoren, die eine öffentliche Diskussion umgehen wollten.

Invitron will aus mit menschlichen Geninformationen angereicherten tierischen Zellen (z.B. des Hamsters) durch Vermehrung Wirkstoffe zur Herstellung von Medikamenten herstellen. Die so gewonnenen Proteine entsprechen in ihrem genetischen Aufbau menschlichen Enzymen. Um die dazu einmal im Reagenzglas genmanipulierten Zellkulturen in handelsfähige Mengen zu vervielfältigen, findet in Bioreaktoren ein sogenanntes „scaling-up„-Verfahren statt. In etwa einen Kubikmeter großen Behältern vermehren sich vorher gentechnisch manipulierte Zellkulturen. Dabei entsteht nach den Wünschen der Biotechniker das gewollte menschliche Enzym.

Gefahr durch Retroviren

Doch leider entsteht nicht nur das. Bei dem „scaling-up„ -Prozeß werden Geninformationen unkontrolliert neu kombiniert und führen zu neuartigen Zellen, die bisher nicht in der Natur vorkommen. Sollten sie in die Umwelt gelangen, sind die Folgen nicht absehbar. Doch die Zellkulturen sind noch nicht das einzige Problem. Sie sind in der freien Natur wahrscheinlich nicht lebensfähig. In den Zellen bilden sich jedoch unbekannte Retroviren. Retroviren sind versteckte Teile der DNS (Geninformation) der Zellen.

Durch Hormone, Strahlung (auch der Sonne), Chemikalien oder anderen Faktoren können diese Genstücke aktiviert, d.h. freigesetzt werden. Aktivierte Retroviren können in fremde Zellen eindringen und diese selbst sowie möglicherweise den gesamten Organismus zerstören. Retroviren sind äußerst schwer nachzuweisen und können bei Menschen zu unvorhersehbaren Erkrankungen führen. Die Viren sind von Menschen und Tieren übertragbar und entfalten ihre Wirkung unter Umständen erst nach Jahren. Die wohl bekannteste Spezies der Retroviren heißt HIV1, das Aids-Virus.

Auf welche Weise Viren aus Zellkulturen freigesetzt werden ist noch weitgehend unerforscht. Erst jetzt hat die Gesellschaft für biotechnologische Forschung in Braunschweig (GBF) dazu ein Forschungsprojekt eingerichtet. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Zellen, die Retroviren enthalten, im Invitron-Labor durch Unvorsichtigkeit und kleine technische Mängel mit Luft in Kontakt kommen. Dort bilden sie sogenannte Aerosole, vorstellbar als eine Art Zellen-Dampf.

Mit der Lüftung in die Umwelt

Diese Aerosole verteilen sich im gesamten Kontrollbereich. In ihm arbeiten die Angestellten. Zwar tragen sie Schutzkleidung, doch ist eine Infektion mit den unerforschten Viren durch Atmung nicht auszuschließen. Wahrscheinlicher werden sie sich jedoch durch versehentliche Beschädigung der Schutzkleidung und kleinste Hautverletzungen infizieren. Nach einer Studie erfolgten fast die Hälfte der in Labors aufgetretenen Infektionen durch Aerosole.

Die Viren in der Anlage zu hüten dürfte noch weit schwieriger sein als ein Atomkraftwerk unter Kontrolle zu halten. Selbst der durch flammende Reden für Invitron bekanntgewordene Professor Pingoud („Auch aus Ihrem Darm kann Gefährliches kommen!“) von der Medizinischen Hochschule Hannover gab zu, daß „ein Herauskommen von einzelnen Zellen aus der Anlage nicht verhindert werden kann“. (Aber gentechnisch erkrankt? Ah, woher denn! d.S.)

Damit bei Lecks in der Außenwand keine Mikroorganismen aus dem Kontrollbereich austreten, wird die Anlage mit Unterdruck betrieben. Die Pumpen zur Erzeugung des Unterdrucks arbeiten jedoch nur teilweise in einem geschlossenen Kreislauf. Daneben werden pro Stunde etwa 80.000 Kubikmeter Luft gefiltert an die Umwelt abgegeben. Verwendet werden sollen sogenannte HEPA-Filter mit einer Rückhaltequote von 99,997 Prozent. Nach einer Studie des Öko -Instituts Darmstadt ist die Filterwirkung bei einer bestimmten Größe der Teilchen jedoch weit geringer. Viren gerade dieser Größe werden von menschlichen Lungen besonders gut aufgenommen. Aber: auch wenn die Filter funktionieren, können drei von einer Million Teilchen in die Umwelt gelangen. Nicht wenig, wenn man bedenkt, daß in einem einzigen Kubikzentimeter Zellflüssigkeit rund eine Milliarde Retroviren enthalten sind.

Störfallplanung nur auf dem

Papier

Gentechnische Anlagen fallen nicht unter die für Atomkraftwerke geltende Störfallverordnung. Invitron muß laut Genehmigungsbescheid vor Inbetriebnahme ihrer Anlage eine Betriebsanleitung für den Störfall erstellen. Doch diese Unterlagen bleiben in den Gebäuden und werden weder an das Gewerbeaufsichtsamt noch an die Feuerwehr weitergeleitet. Beispielsweise bei einem Brand der gesamten Anlage kann die Feuerwehr nicht angemessen eingreifen. Gegen eine Zerstörung der Gebäude durch Flugzeugabsturz oder Erdsenkung ist keinerlei Schutz vorgesehen. Der Genehmigungsbescheid schreibt Rohrleitungen vor, über die bei einem Störfall der innere Kontrollbereich von außen mit einem desinfizierenden Mittel begast werden kann. Ein solches Mittel muß allerdings nicht auf Vorrat gehalten werden.

Die ständige Aufsicht über den ordnungsgemäßen Betrieb der Anlage liegt beim niedersächsischen Gewerbeaufsichtsamt. In dieser Behörde ist allerdings nicht ein einziger Gentechnik -Experte angestellt. Der für die Aufsicht qualifizierteste Mitarbeiter ist Dr.Hermann Franke. Der ist lediglich Chemiker und erklärte gegenüber der taz: „In der Gentechnik bin ich ein Laie.“ (Wie wär's mit Weiterbildung, Kumpel? d.S.) Nach seinen Worten werden sich die Kontrollen weitgehend darauf beschränken, „ob eine versteckte Rohrleitung nach außen führt“. Doch selbst dabei mußte er zugeben, „wenn Invitron bewußt Kontrollen umgeht, stehen wir ziemlich auf verlorenem Posten“ (Wir auch. d.S.).

Auch ohne Störfälle und Undichtigkeiten gelangen die Retroviren direkt in das Blut der Medikamentenabnehmer. Die Reinheit der hergestellten Medikamente orientiert sich an den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation. Danach dürfen die Produkte maximal 100 Picogramm DNS pro Milligramm Protein enthalten. Dies entspricht der etwa 50fachen Menge der gesamten Erbinformation einer menschlichen Zelle.

Lobby soll sich selbst

kontrollieren

Die Genehmigung und Kontrolle der einzelnen in der Anlage verwendeten Zellinien wurde der Zentralkommission für biologische Sicherheit (ZKBS) übertragen. Die ZKBS arbeitet auf keiner gesetzlichen Grundlage. Ihre Mitglieder werden von Bundesgesundheitsministerin Süssmuth direkt berufen. Fünf der zwölf Mitglieder sind Mitarbeiter der chemisch -pharmazeutischen Industrie. Der Kommission gehört nicht ein einziger kritischer Wissenschaftler an.

Zwei Mitglieder der GABL Hannover haben einen Antrag auf Teilnahme am Genehmigungsverfahren gestellt. Sie kündigten eine Klage gegen das „Restrisiko“ Invitron an. Der Genehmigungsbescheid enthält keine Anordnung zum sofortigen Vollzug. Damit darf mit dem Bau der Anlage bis zum Ende des Gerichtsverfah- rens nicht begonnen werden, und das kann Jahre dauern. Entscheidend kommt es noch auf den niedersächsischen Umweltminister Werner Remmers an. Er könnte via Amt den sofortigen Vollzug auch nachträglich anordnen.

Das Thema Invitron wird nun auch den Bundestag beschäftigen. Der Grünen-Abgeordnete Helmut Lippelt will in einer Anfrage wissen, warum eigentlich die Änderung des Bundesimmissionsschutzgesetzes nicht, wie angekündigt, zum 1.August in Kraft trat. Sollte der niedersächsischen Gewerbeaufsicht genug Zeit gelassen werden, die Genehmigung noch vor der Gesetzesänderung zu erteilen?