Gesellen rausgeprüft

■ Die Hälfte der Damenschneiderlehrlinge fiel durch die Gesellenprüfung / Prüfung wird jetzt wiederholt / Mit öffentlichen Mitteln zu viele Schneiderinnen ausgebildet

Ältere Damen aus der Nachbarschaft, die sich zum Geburtstag mal was Gutes tun und sich ein Kostüm schneidern lassen wollen. Oder Manager-Frauen aus Oberneuland, die sich im Atelier individuell einkleiden lassen. Die Kundschaft der wenigen Bremer Damenschneiderinnen ist ganz verschieden, aber schmal. Dennoch ist Damenschneiderin ein Modeberuf, im doppelten Sinn des Wortes. Türkische Mädchen bemühen sich um einen Ausbildungsplatz ebenso wie Abiturientinnen, die ihn als Sprungbrett zu einem Mode-Design-Studium sehen. Nicht nur die wenigen Handwerksbetriebe bilden Schneiderinnen aus, sondern eine ganze Reihe von Weiterbildungseinrichtungen. In diesem Sommer versuchte die Damenschneider-Innung, der Flut der Berufsanfängerinnen Herrin zu werden: Bei der Gesellenprüfung im Juni fiel die Hälfte der Bewerberinnen durch. Doch die durchgefallenen oder schlecht benoteten Berufsanfängerinnen setzten sich zur Wehr: Einem Widerspruch von 38 jungen Frauen mußte die Handwerkskammer vorgestern

stattgeben. Eine Frist von acht Wochen hatten die Beschwerdeführerinnen der Handwerkskammer gesetzt, danach wollten sie beim Verwaltungsgericht Klage einreichen. Der von ihnen beauftrage Rechtsanwalt Waldemar Klischies hatte eine Reihe von Verfahrensfehlern moniert. Jetzt räumte die Kammer ein, daß bei der Gesellenprüfung „wesentliche Verfahrensfehler im nachhinein festgestellt worden sind“. Der mündliche Teil der Prüfung wird am 15. Oktober wiederholt. Dann sollen auch die Gesellenstücke, die seit der Prüfung vom Juni auf dem Dachboden der Handwerkskammer hängen, neu bewertet werden.

Nur fünf Prozent betrug die Durchfallquote im Jahr 1987. Von den 80 diesjährigen Bewerberinnen fielen 40 durch. Nur neun der Berufsanfängerinnen sind in Handwerksbetrieben ausgebildet worden, die übrigen kommen aus so unterschiedlichen Weiterbildungseinrichtungen wie dem Roten Kreuz, der Waldorf-Schule, dem Frauenerwerbsverein oder dem Arbeiterbildungszentrum der Arbeiterkam

mer. Deren Ausbildung wurde teilweise vom Arbeitsamt finanziert, aber auch aus Mitteln der Europäischen Gemeinschaft und des Landes Bremen. In der Berufsberatung des Arbeitsamtes würden die „jungen Mädchen“ stets darauf hingewiesen, daß sie als Damenschneiderin kaum Arbeit in Bremen finden würden, sagte die Leiterin der Berufsberatung, Erika Bergfeld, gestern zur taz. Doch viele sähen die Schneiderlehre als Sprungbrett für eine weitergehende gestalterische Ausbildung, andere seien bereit, in anderen Gegenden der Republik auf Arbeitssuche zu gehen. Oder soweit es sich um junge Ausländerinnen handelt - in die Heimatländer ihrer Eltern zu heiraten und etwa in der Türkei eine Schneiderwerkstatt aufzumachen. Bergfeld: „Für die jungen Ausländerinnen gibt es auch oft außer dem Schneiderberuf keine andere Möglichkeit, weil sie mangels sprachlicher und schulischer Voraussetzungen keinen Zugang zu kaufmännischen Berufen haben.“ Beschäftigungsprobleme gebe es auch in anderen Berufen, nicht nur bei den Schneide

rinnen.

Auch Rolf von der Thüsen vom „Arbeiter-Bildungs-Centrum“ (ABC) der Bremer Arbeiterkammer fühlt sich von der hohen Durchfallquote der Schneiderlehrlinge nicht alarmiert. Das ABC bildet mit Arbeitsamtsgeldern aus dem „Benachteiligtenprogramm“ des Arbeitsamtes überwiegend türkische Mädchen aus, die allenfalls einen Hauptschulabschluß haben. Aufgrund ihrer sprachlichen und schulischen Defizite hätten die jungen Türkinnen die Prüfung auch in den vergangenen Jahren in der Regel nur „ausreichend“ bestanden. Jetzt habe die Handwerkskammer offensichtlich das Prüfungsniveau angehoben.

Günter Dahlbeck von der Handwerkskammer bestreitet das. Die Prüfungsanforderungen seien in den letzten Jahren nicht verschärft worden. Die Verantwortung für die Flut von Schneiderinnen liegt seiner Meinung nach beim Arbeitsamt und bei den Politikern: „Die haben lieber Arbeitslose mit Gesellenbrief als ohne.“

Michael Weisfeld