Musikalischer Kubismus

■ Über den Komponisten Stefan Wolpe, der 1933 emigrieren mußte und der jetzt wiederentdeckt wird

Reinhard Voigt

Als Karlheinz Stockhausen Anfang der fünfziger Jahre seine Kriterien der Punktuellen Musik entwickelte, berief er sich auf die - bereits - historische Avantgarde der zwanziger Jahre: „Die historische Orientierung dieses neuen Denkens geht auf die letzte Wiener Schule mit ihrem konsequentesten Vertreter Anton von Webern zurück.“ Damit übersprang er ein Vierteljahrhundert Musikgeschichte, als ob es diese nicht gegeben hätte. Er demonstrierte - bewußt oder unbewußt - die politische Situation der Zeit: Die Aufarbeitung des deutschen Faschismus und seinen Folgen fand auch in der Musik nicht statt. Eine ganze Komponistengeneration war verdrängt worden, die im Sprachgebrauch inzwischen als „mittlere Generation“ zwischen der Wiener und der Darmstädter/Kölner Schule fungiert, und bis jetzt kaum mehr als ansatzweise wahrgenommen wurde.

Zu dieser mittleren Generation gehören z.B. Ernst Krenek, Hanns Eisler, Leopold Spinner, Wladimir Vogel und Stefan Wolpe. Alle um die Jahrhundertwende geboren, nahmen sie die neuen musikalischen Tendenzen der zwanziger Jahre auf, zum Teil direkt als Schüler Schönbergs, Bergs oder Weberns. Die Möglichkeit einer kontinuierlichen Weiterentwicklung aber war ihnen 1933 abgeschnitten: Fast ausnahmslos mußten sie nach der faschistischen Machtergreifung emigrieren, zu jung, um im Musikleben der Weimarer Republik Fuß gefaßt und eine entsprechende Reputation erlangt zu haben.

Im Gefolge der extensiven Exilliteraturforschung gab es in den letzten Jahren auch Ansätze zu einer Exilmusikforschung, die allemal auch das Hörbarmachen von Exilmusik beinhaltet: so z.B. die Konzert- und gleichnamige Sendereihe des WDR zur Musik aus der Emigration 1985, oder der Schwerpunkt Musik aus dem Exil bei den Berliner Festwochen 1987. Die erste - und bis jetzt einzige - Monographie über einen emigrierten Komponisten erschien 1980: Claudia Maurer Zencks Arbeit über Ernst Krenek - ein Komponist im Exil. Auch Regina Buschs großangelegtes Werkverzeichnis von L. Spinner (1988) ist zu erwähnen. Hanns Eisler ist im Zuge der Studentenbewegung und den Diskussionen um „Musik und Politik“ wieder ins westdeutsche Bewußtsein gerückt.

Dieser Herbst wird ein Licht auf einen weiteren Komponisten dieser mittleren Generation werfen: auf Stefan Wolpe; und es ist schon absehbar, daß die jetzt in Hamburg und Köln angesetzten Konzerte und die im Oktober auf den Markt kommenden - 1. bundesdeutsche! - Schallplattenproduktion mit Klaviermusik von Wolpe (gespielt von Geoffrey D. Madge, der sich als einziger europäischer Pianist schon seit einem Jahrzehnt mit Wolpe beschäftigt) eine umfassende Wiederentdeckung (oder besser: Entdeckung) einläuten werden.

Stefan Wolpe wurde am 25.8. 1902 in Berlin geboren. Die Schule brach er vor dem Abitur ab, an der Musikhochschule hielt es ihn nicht länger als ein Semester. Ihn interessierte weniger eine akademische Ausbildung als vielmehr die aktive Teilnahme an den künstlerischen und politischen Prozessen, die das Bild der Weimarer Republik bis heute prägen: Mit den Berliner DaDaisten um Hans Richter und Raoul Hausmann hatte er ebenso Kontakt wie mit Kurt Schwitters, dessen berühmtes An Anna Blume-Gedicht er 1929 vertonte, in genial-adäquater Weise in freier Atonalität. Gleichzeitig gehörte er zum „Melos„-Kreis von Hermann Scherchen, dem großen Propagandisten der neuen Musik, holte sich aber auch kompositorische Ratschläge von Feruccio Busoni, den er verehrte. 1921 besuchte er den Eingangskurs von J.Itten am Weimarer Bauhaus, lernte Klee, Kandinsky und Schlemmer kennen, zu dessen Triadischen Balett er - nach eigenen Aussagen - als erster die Musik schrieb.

Ein wichtiger Einschnitt in Wolpes Leben war sein KPD -Eintritt 1925. Zwar arbeitete er auch in den folgenden Jahren noch in der politisch eher diffusen „Novembergruppe“ mit, aber sein Engagement in den Kulturorganisationen der Partei wie dem KdAS (Kampfbund der Arbeitersänger) oder bei IAH-Veranstaltungen nehmen immer mehr Platz ein. Zunehmend schrieb er „Angewandte Musik“ und Agitprop-songs. 1931 wurde er Mitglied der von Gustav v.Wangenheim geleiteten Agitproptheater-„Truppe 31“. Deren Erfolgsstück Die Mausefalle brachte es während einer Deutschlandtournee auf über 300 Aufführungen. Das letzte Stück der Truppe 31, Wer ist der Dümmste, mit der Musik von Wolpe, lief in Berlin bis zum 4. März 1933 - dann wurde es verboten. Wenige Tage später floh Wolpe aus NS-Deutschland, mit falschem Paß und als Geschäftsmann verkleidet. Als Jude, Kommunist und „entarteter“ Neutöner dreifach inkrimminiert, blieb ihm, nur die Möglichkeit des Lebens im Exil. Nach einigen Zwischenstationen - Schweiz, UdSSR, Österreich (zum Studium bei Anton Webern in Wien), Rumänien - gelangte Wolpe Anfang 1934 nach Palästina. Er arbeitete als Lehrer am Jerusalemer Konservatorium und gleichzeitig als „musikalischer Instrukteur“ in verschiedenen Kibbuzim. Seine Kompositionen dieser Zeit spiegeln die widersprüchliche Arbeitssituation: Neben Studien zur Aneignung und Weiterentwicklung der 12-Ton -Technik stehen seine Songs from the Hebrew, die seine intensive Beschäftigung mit jüdischer/orientalischer Folklore dokumentieren. Wolpes Versuche, ein musikalisch wie politisch avanciertes Musikleben zu initiieren, scheiterten an der vorherrschend reaktionären Musikpolitik im Land. Schon 1937 entschloß er sich, in die USA zu emigrieren, was er erst Ende 1938 realisieren konnte.

In New York fand sich Wolpe in der für das Exil so kennzeichnenden Situation der totalen Entwurzelung wieder. Der Verlust jeglicher sozialer, gesellschaftlicher Bezüge bedeutete für ihn aber auch die Aufgabe der Hoffnung auf eine kollektive musikalische Produktion, an der er bis jetzt noch immer gehangen hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben war er gezwungen, seinen individuellen, authentischen musikalischen Stil zu entwickeln, was er nach zehnjährigen kompositorischen Studien auch erreichte. Seine gegen Ende der vierziger Jahre entstandene Theorie des musikalischen Raumes brach die traditionelle, lineare Struktur, die sukzessive Erzählform der Komposition auf. An deren Stelle trat für Wolpe der nichtlineare musikalische Raum, der offene Konstellationen nicht notwendig voneinander abhängiger, simultaner musikalischer Ereignisse ermöglichte.

In einem Interview mit Eric Salzman (1963) beschreibt Wolpe seine Kompositionsmethode: „Nach dem Saxophon-Quartett fand ich tatsächlich zu mir selbst, als ich anfing, an den 'Enactments‘ für drei Klaviere zu arbeiten. Damit kündigte sich eine neue Welt an, die bereitlag, entdeckt zu werden: Das Prinzip der Simultaneität, oder: das Prinzip einer Art von futuristischem Dschungel, einem futuristischen Puzzle von Ereignissen, einem Zwischenraum lassenden, fein verteilten, miteinander verwobenen, in dem dasselbe Material auf einer Vielfalt von Ebenen simultan existieren kann: Auf einer syntaktisch hochelaborierten Ebene sowie gleichzeitig auf einer syntaktisch eher unausgearbeiteten, primitiven Ebene. Hier hatte ich zum ersten Mal zum Beispiel die Idee, die vielfältigen unterschiedlichen Qualitäten musikalischer Ereignisse als Bestandteile des seriellen Charakters konstruktiv zu benutzen. Der allgemeine Charakter ergibt sich aus der seriellen Inbesitznahme, insofern als ich entscheide, daß bestimmte Elemente, bestimmte Ton -Situationen, bestimmte Ton-Konstellationen nur in Bezug auf die primitivste, schäbigste Situation existieren, während andere, in anderer Transposition, anderer Permutation, einem anderen Kontext nur für höchst elaborierte, hochkomplexe, hochsyntaktische, hochkomplizierte strukturelle Zwecke verwendet werden.

Die Ideen leben in einem multidimensionalen Raum und verhalten sich entsprechend: verhalten sich diskontinuierlich, brechen ab, kollabieren, wachsen zusammen, halten zusammen. Das war eine neue Erfahrung für mich, ich ich habe tatsächlich damit zum ersten Mal in meinem Leben eine adäquate Technik gefunden, 'Material in Gebrauch‘ (material in use) zu präsentieren.“ (ich würde ja so gerne an dieser erfahrung teilnehmen wollen, wenn ich nur verstünde, was er meint??? d. s-in)

Es ist bezeichnend, daß Wolpe seit 1948 in engem Kontakt mit den New Yorker Malern des Abstrakten Expressionismus, speziell mit Willem de Kooning stand. De Kooning hatte seinen Stil aus dem Kubismus entwickelt, und nicht ganz zu Unrecht wurden Wolpes Kompositionen dieser Jahre auch „kubistische Musik“ genannt. Mit seiner neuen Kompositionsweise bereitete Wolpe den Boden für das, was in den Jahren darauf als „US-Avantgarde“ in Westdeutschland Einzug hielt und bejubelt wurde.

Wolpes eigene Versuche, nach Deutschland zurückzukehren (ab 1955), schlugen sämtlich fehl. Der reservierte, manchmal auch direkt ablehnende Tonfall der Antworten, die er auf seine entsprechenden Anfragen von Rundfunkanstalten oder auch vom damaligen Leiter der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik erhielt, zeigen vor allem eines: Eine Verarbeitung des Faschismus und seinen Folgen, zum Beispiel der Emigration, fand, wie in allen gesellschaftlichen Bereichen des Nachkriegsdeutschland, auch im Bereich der Musik nicht statt. Auch im Falle der Musiker-Emigranten war keiner an deren Heimkehr interessiert. Die wenigen Male, die Wolpe als Dozent bei den Darmstädter Ferienkursen teilnehmen konnte, brachten keine langfristigen Berufsperspektiven in Deutschland. 1963 wurde Wolpes Parkinson-Krankheit diagnostiziert, die ihn zunehmend bewegungsunfähig machte. Er starb am 4. April 1972 in New York.

Übersetzung des Verfassers

In zwei Veranstaltungen wird das Werk Stefan Wolpes in der nächsten Woche vorgestellt:

Die sechs Konzerte der Kölner Veranstaltung „Von Berlin nach New York“ (14.-16. September, in der Aula der Kölner Musikhochschule) folgen musikalisch Wolpes Exilanten -Biographie - von den zwanziger Jahren in Berlin, über Wien, Palästina bis nach New York. Im Mittelpunkt stehen Vokal und Kammermusikwerke, eingebunden in Programme, die auch Werke seiner Lehrer (Busoni und Webern) enthalten, von Schülern (Feldman, Shapey und Alexander) sowie von Mitstreitern und Weggefährten, von Weill, Vogel, Eisler, Dessau und auch Schönberg, von Komponisten also, die mit Wolpe das Emigrantenschicksal teilten.

Zwei Tage vorher, am 12.September, bringt das Ensemble „L'art pour l'art“ in ihrer Porträt-Konzert-Reihe ein All -Wolpe-Programm in der Hamburger Musikhalle, darunter einige der „Hebrew Songs“ aus Wolpes Palästina-Zeit und das in den USA schon fast zum Repertoire gehörende Quartett für Tenorsax, Tromp, Perc, Klavier, Wolpes Beitrag zur Feier der siegreichen chinesischen Revolution.

Wolpes fast komplettes Solo-Klavierwerk, von Geoffrey D. Madge eingespielt, ist ab Oktober über den JPC-Versand (4500 Osnabrück, Ackerstr. 59) zu beziehen.