Zum Tod von Jürg Weis: Suche nach der Wahrheit

Am 23.August lag die verstümmelte Leiche des Schweizers und zwei Salvadorenos in einem Maisfeld bei Ilobasco / /Jürg Weis wollte wiederbesiedelte Dörfer besuchen / Hinweise auf Verbrechen der Nationalpolizei / War die Tat ein Alleingang oder eine kalkulierte Warnung an unerwünschte Revolutionstouristen?  ■  Aus San Salvador Ralf Leonhard

Die näheren Umstände des Todes von Jürg Weis werden wohl noch lange im Dunkeln bleiben. Eines aber können wir nach mehrtägigen Nachforschungen in El Salvador mit Sicherheit sagen: es ist ein Verbrechen geschehen und vertuscht worden. Täter: Agenten der Nationalpolizei von Ilobasco; Mitwisser und Beihelfer bei der Vertuschung: der Generalstab der salvadorianischen Armee und letzten Endes auch die Zivilregierung unter Napoleon Duarte, der (nach der Verfassung) das Oberkommando über die Armee führt.

Jürg Weis starb am 22.August, vermutlich um fünf Uhr nachmittags. Alles weitere bedarf noch der Klärung, sogar der Tatort. Denn alle Indizien deuten darauf hin, daß der Ort, an dem sein Leichnam am Dienstag, den 23.August, vom Schweizer Honorarkonsul, einem Richter und einem Arzt aus Ilobasco gefunden wurde, nicht identisch ist mit dem Ort, an dem Jürg den Tod fand.

Hansruedi Simon, seines Zeichens Zuckerbäcker, Inhaber der 'Pasteleria Lucerna‘ in San Salvador und eidgenössischer Honorarkonsul, wurde am Montag noch um 6.15 telefonisch verständigt: Er möge einen Schweizer identifizieren, der bei Ilobasco im Gefecht gefallen sei. Simon wurde früh am nächsten Morgen zum Tatort gebracht, gleichzeitig mit dem Arzt Douglas McArthur Castro aus Ilobasco und dem Assistenten des zuständigen Friedensrichters, Raul Angel Cabrera, samt Sekretärin.

Konsul Simon mußte fünf Kilometer zu Fuß marschieren und dabei zwei Bäche überqueren, bevor er zum Maisfeld des Campesino Jose Abarca gelangte, wo drei Leichen lagen. Er sah sich aber außerstande zu bestätigen, daß es sich bei dem einen Leichnam um den eines Schweizers handelte, dessen Paß ihm die Nationalpolizei zeigte: Jürg hatte kein Gesicht mehr. Dr. Castro konstatierte in seinem Gutachten „Ablösung des weichen Gewebes von Schädel, Gesicht und Hals durch Raubtiere, und Zerstörung der Stirn- und Schädeldecke. Einschuß von zwei Zentimetern in der rechten Schulter ohne Austrittsöffnung, Fleischwunde in der rechten Hüft- und Lendengegend durch Raubtiere und neun großkalibrige Einschüsse ohne Austrittsöffnungen vom linken Schulterblatt bis zur Hüfte. Außerdem mehrere zehn Zentimeter lange Schnittwunden in der rechten Brustgegend“.

Vertuschungsmanöver der

Armee

Was für den Chirurgen Douglas McArthur Castro nur mit makabren Verwüstungen durch streunende Hunde und Aasgeier erklärt werden kann, ist für die Armee ein Vertuschungsmanöver der „subversiven Elemente“. Armeesprecher Oberst Galileo Torres beteuert, die Guerilla hätte ihren ausländischen Mitkämpfer unkenntlich machen wollen. Mit der Fleischwunde an der rechten Flanke hätte man ihm vermutlich eine Tätowierung oder ein anderes Kennzeichen weggeschnitten. Abgesehen davon, daß Jürg an der betreffenden Stelle keine Tätowierung hatte, entbehrt die Erklärung auch sonst jeder Logik: in der ganzen Geschichte des salvadorianischen Bürgerkrieges gibt es keinen Präzedenzfall, daß die FMLN die Identität eines Gefallenen durch Verstümmelungen zu verschleiern versucht hätte. Zweitens: wenn sich die Guerilleros schon die Mühe machen, ihrem Kameraden das Gesicht zu zerstören, warum lassen sie ihm seinen roten Paß? Und warum lassen sie drei Gewehre liegen, die an der Front so dringend benötigt werden? Jeder Guerillakämpfer kann bestätigen, daß die Rettung der Waffen auf dem Rückzug Priorität hat.

Nach Angaben der Presseabteilung der Streitkräfte (COPREFA) wurden von den „Extremisten der FMLN-FDR“ drei M-16 Gewehre, Magazine und Munition erbeutet. Die Umstände sind wiederum äußerst widersprüchlich: der Arzt von Ilobasco berichtet, daß neben jeder der Leichen ein Gewehr gelegen habe, als er am Dienstag morgen am Tatort ankam. Oberst Herrarte vom zuständigen Militärkommando 2 in Sensuntepeque konnte allerdings nur ein M-16 vorweisen. Oberst Galileo Torres seinerseits erklärte, ursprünglich habe man auch nur eines gefunden, die restlichen seien anschließend im Umkreis offenbar auf der Flucht fallengelassen - aufgetaucht. Die morgendliche Szene muß also gestellt gewesen sein. Interessanterweise kann sich Honorarkonsul Simon nicht erinnern, eine Waffe gesehen zu haben.

Keine unabhängigen Dokumente vom Tatort

Die offizielle Version mußte im Laufe der Zeit dem Stand der Erhebungen angepaßt werden. Hieß es im ersten Armeebulletin noch: „Sicherheitskräfte befanden sich auf einer Routinepatrouille, als sie von FMLN-Einheiten attackiert wurden“, so mußte COPREFA später präzisieren, die Polizei hätte Hinweise bekommen. Eine Gruppe von Agenten der Nationalpolizei sei dann am Cerro Colorado auf die „Subversiven“ gestoßen, die mitten in einem Maisfeld beim Mittagessen saßen. Konsul Simon: „Die sind vermutlich beim Picknick überrascht worden.“ Er erinnert sich an herumliegende gekochte Maiskolben, einen Gaskocher und medizinisches Material, wie Injektionsspritzen, einen Pulsmesser und Medikamente. Der Leichnam Jürgs lag damals vor einer Art Biwak aus vier in den Boden gerammten Stecken und einer Plastikplane. Unabhängige Dokumente vom Tatort gibt es nicht. Das Fernsehen wurde zwar herbeigerufen, doch mit derartiger Verzögerung, daß die Kameraleute nur mehr die Erklärungen von Oberst Herrarte filmen konnten. Über die Bergung der Leichen und die Sicherstellung des aufgefundenen Materials gibt es nur ein Videoband von COPREFA, das an alle Kanäle verteilt wurde. Darin werden neben einem M-16 Gewehr auch hausgemachte Bomben und FMLN-Propagandaflugblätter vorgeführt, die angeblich am Tatort gefunden worden sein sollen, an die sich Konsul Simon aber nicht erinnern kann und die auch im ersten Armeekommunique nicht vorkommen. Von den salvadorianischen Journalisten hat keiner die Sache nachrecherchiert. „Ein paar Tote sind heute Nachricht und morgen vergessen“, sagt Narciso Castillo, Programmdirektor vom Kanal 12, „ein Menschenleben zählt hier nicht viel“.

Jürg Weis war am 19.Juli, aus Panama kommend, nach El Salvador eingereist. Sein Plan war, die wiederbesiedelten Dörfer in den Konfliktzonen zu besuchen. Dies ist nur auf zweierlei Art möglich: offiziell mit einem Geleitbrief des Armeeoberkommandos, der nur ausnahmsweise und für höchstens zwei Tage ausgestellt wird, oder auf Schleichwegen mit ortskundiger Begleitung durch FMLN-Guerilleros. Denn praktisch das ganze Land ist militarisiert. Wer auf eigene Faust reist, läuft Gefahr, zwischen die Fronten zu geraten oder von einer Tretmine zerfetzt oder verstümmelt zu werden, wie sie von beiden Seiten zur Absicherung des Territoriums gelegt werden.

Von Anfang an muß etwas schiefgelaufen sein. Jürg mußte einen ganzen Monat in San Salvador warten, bevor er endlich die Nachricht bekam: Es kann losgehen. Er wohnte bei Freunden in einer besseren Gegend der Hauptstadt und wurde durch die wochenlange Untätigkeit nervös und ungeduldig. Er besuchte Leute, die er von früheren Besuchen oder von der Solidaritätsarbeit in der Schweiz kannte und verließ täglich das Haus, um Zeitungen zu kaufen. Am 19. August mußte er sich bei der Einreisebehörde melden, um seine Aufenthaltsgenehmigung um 30 Tage zu verlängern. Am Abend desselben Tages ging er noch auf ein Fest, wo er Freunden mitteilte, jetzt wäre es endlich soweit. Binnen zwei Wochen wollte er zurück sein. Samstag früh wurde Jürg zum letzten Mal in San Salvador gesehen. Wenig später ist er vermutlich aufgebrochen. Ob er mit seinen Begleitern noch in der Stadt Kontakt aufnahm, ob er sie in Ilobasco traf oder irgendwo unterwegs, wissen wir nicht. Es sollen vier gewesen sein.

„Nicht schießen, ich bin Arzt“

Sonntag wollen Leute aus dem Weiler Las Flores, ca. 16 Kilometer südlich von Ilobasco, einen großgewachsenen Ausländer gesehen haben, begleitet von Leuten, die für Guerilleros gehalten wurden. Die provisorische Unterkunft, wo später die Leichen gefunden wurden, befand sich rund fünf Kilometer südlich der etwa 25 Familien zählenden Ansiedlung, am Fuße des Colorado-Hügels. Es ist vorstellbar, daß jemand aus Los Flores die Polizei informiert hat.

Die Nationalpolizei agiert normalerweise nur in den größeren Städten, bestenfalls noch entlang den Straßen im unmittelbaren Umkreis. In letzter Zeit werden Polizeieinheiten jedoch verstärkt für Sonderaufgaben eingesetzt. Sie operieren dann in olivgrünen Armeeuniformen und unter dem Befehl des zuständigen Brigadekommandanten. Im konkreten Fall handelt es sich um Oberst Carlos Rolando Herrarte von der Militärbasis 2 in Sensuntepeque, der Hauptstadt des Departements Cabanas. Die Nationalpolizei ist für ihr brutales Vorgehen und die systematische Anwendung von Folter beim Verhör bekannt. Ihre Standardbewaffnung: deutsche G-3 Sturmgewehre, Kaliber 7,62.

Montag zwischen 14 und 14.30 Uhr soll es zum Zusammenstoß gekommen sein. Darin stimmen beide Seiten überein. Nach Darstellung der Armee habe sich die Polizeipatrouille nach kurzem Schußwechsel zurückgezogen, um Verstärkung zu holen, ein Polizist sei an der Schulter verletzt worden. Laut Berichten von Zeugen, an die wir nur über zwei Ecken gekommen sind, sei Jürg zunächst am Bein verletzt worden und habe dann geschrieen: „Nicht schießen, ich bin Arzt.“ Darauf hätte man längere Zeit nichts mehr gehört und dann wieder Gewehrsalven. Der Schrei Jürgs ist auch über die Aussagen der Polizei überliefert. Allerdings soll er nach dieser Darstellung gleichzeitig geschossen haben. Diese Version wird selbst von einem führenden Vertreter der Christdemokratischen Partei für wenig wahrscheinlich gehalten. Nehmen wir aber an, Jürg hätte tatsächlich geschossen: dann gibt es noch immer keine Erklärung für die Schnittwunden im Brustkorb und für die neun Einschüsse im Rücken, die ihm laut Autopsie-Befund noch bei lebendigem Leib zugefügt wurden. Kriegserfahrene Salvadorenos bestätigen, daß es so gut wie unmöglich ist, jemanden im Kampf mit mehr als vier Projektilen zu treffen, speziell wenn es sich um so potente Waffen wie G-3 handelt, die den stärksten Mann sofort umwerfen. Damit gewinnt das Zeugnis an Glaubwürdigkeit, das von einem der Überlebenden stammt. „Die Verbrecher (der Nationalpolizei), wohl wissend, daß es sich um einen Ausländer handelt, schleppten ihn an den Rand des Dorfes, wo sie ihn kaltblütig ermordeten“ , steht auf einem Zettel gekritzelt, der über klandestine Kanäle nach San Salvador gelangte. Auch die anderen beiden Toten, von denen einer als der 34jährige Medizinstudent Carlos Mauricio Linares Magana identifiziert werden konnte, weisen ungewöhnlich viele Einschüsse auf. Letzterem wurden beide Oberschenkel durchschossen und die Genitalien völlig zerfetzt. Außerdem konstatierte der Arzt drei Einschüsse im Oberkörper. Der dritte Tote, der schließlich als Unbekannter auf dem Armenfriedhof von Ilobasco verscharrt wurde, hatte immerhin fünf Kugeln im Leib. Alle drei Toten trugen Zivilkleidung und hatten keine Stiefel an. Laut richterlichem Protokoll wurden an der Seite Jürgs sieben Patronenhülsen großen Kalibers (G-3?) gefunden. Die makabren Verstümmelungen von Gesicht und Flanke lassen sich viel eher als Vertuschung von Folterspuren interpretieren denn als Versuch, jemanden unkenntlich zu machen. Hat man Jürg das Gesicht aus nächster Nähe weggeschossen?

Die Gegend galt als „ruhig“

Ungeklärt ist, ob die Nationalpolizei durch Zufall gerade in der Zone patrouillierte oder ob sie sich schon in der Hauptstadt an Jürgs Fersen geheftet hatte.

In letzter Zeit sei es in der Gegend ruhig gewesen, berichten die Leute in Ilobasco. Das heißt, es hat längere Zeit keine Großoperation mit Artillerieeinsatz und Luftbombardements gegeben. Die tägliche Repression, die Verhaftungen in den Dörfern, das Rekrutieren von Jugendlichen für den Militärdienst werden nicht als Ereignisse wahrgenommen. Dies hieße, von einem Engländer erwarten, daß er einen Regenfall als besonderes Vorkommnis meldet. Gerade im Weiler Los Flores wurde eine Woche vor der Bluttat ein Jugendlicher zwangsrekrutiert, konnte aber später entkommen.

Es spricht allerdings auch einiges für die andere Variante. Die Einwanderungsbehörde, bei der Jürg Weis am Freitag um seinen Stempel nachgesucht hatte, wird von der Haciendapolizei kontrolliert. Es ist durchaus vorstellbar, daß die Information von dort an alle Sicherheitskörper gegangen ist. Jürg war in El Salvador kein Unbekannter. Man kann auch davon ausgehen, daß die US-Botschaft, die in der Schweiz bestens über die Aktivitäten der Solidaritätsbewegung informiert ist, den Kollegen in El Salvador auf die Sprünge hilft. Jürg war schon Ende 1986 unangnehm aufgefallen, als er sich beim Fotografieren der Kaserne der Ersten Infanteriebrigade in San Salvador hatte erwischen lassen.

All das ist noch kein Grund, jemanden brutal zu ermorden, zumal die salvadorianische Armee seit Jahren an ihrem Image poliert. War die Tat der Alleingang von ein paar Berserkern oder ein wohlkalkulierter Schuß vor den Bug für alle Revolutionstouristen und andere unerwünschte Ausländer?

Seit einiger Zeit schon läuft in El Salvador eine aggressive Kampagne gegen ausländische Einmischung. Gemeint sind nicht die US-Militärberater, sondern die Freiwilligen von Kirchen und humanitären Organisationen, die sich zunehmend um die Lebensbedingungen der Zivilbevölkerung in den Konfliktgebieten kümmern und dabei ziemlich offensiv vorgehen. In den letzten Wochen wurde ein britisches Paar geschnappt, das angeblich in Chalatenango mit der Guerilla kooperierte, und eine Gruppe von 15 Spaniern ist in den Bergen von San Vicente aufgegriffen worden.

Alle wurden verhört und dann mit großem Tamtam ausgewiesen. Einer Gruppe von rund 70 US-amerikanischen Kirchenleuten, die im August eine Gruppe von Vertriebenen bei der Rückkehr in ihre Heimatgemeinden begleiten wollten, verweigerte die Regierung die Einreise. Auch Oberst Herrarte, als Militärchef der Region mitverantwortlich für die Tat, nahm den Tod von Jürg Weis zum Anlaß, „die landesweite Einmischung der Ausländer“ anzuprangern. Der Generalstab der Armee habe bereits mehrmals den Aufruf ergehen lassen, „sie mögen sich aus solchen Situationen fernhalten“.