AKW Mülheim-Kärlich ausgeknipst

Bundesverwaltungsgericht erklärt erstmals Atomgenehmigung für “ rechtswidrig“ / Mauscheleien unter Kohl'scher Regentschaft führen nach 13 Jahren zur Stillegung des Akws / Betreiber beleidigt, Genehmigungsbehörde verwirrt, Wiederinbetriebnahme ungewiß  ■  Von Gerd Rosenkranz

Berlin (taz) - Atomarer Frieden in Mülheim-Kärlich: Das Atomkraftwerk liegt still. Unmittelbar nachdem das Bundesverwaltungsgericht in Berlin gestern morgen die 1.Teilerrichtungsgenehmigung vom Januar 1975 für „insgesamt rechtswidrig“ erklärt hatte, veranlaßte der Stromgigant RWE, die Anlage auszuschalten. Der 1.300-Megawatt-Reaktor war im August 1987 nach einem 12 Jahre währenden Rechtsstreit - wie es schien endgültig - in Betrieb gegangen.

Die überraschende Entscheidung ist in der Auseinandersetzung über die Atomkraft ohne Beispiel. Noch nie hat das höchste deutsche Verwaltungsgericht eine Atomgenehmigung für gänzlich rechtswidrig erklärt. Ausschlaggebend für das Urteil war ein hanebüchener Winkelzug, den das rheinland-pfälzische Wirtschaftsministerium als Genehmigungsbehörde im Verein mit der Betreiberseite vor etwa vierzehn Jahren ausgeheckt hatte. Helmut Kohls damaliger Wirtschaftsminister Heinrich Holtenbrink erteilte am 9. Januar 1975 die Genehmigung für den Bau einer Anlage, die so niemand mehr bauen wollte. Schon Anfang 1974 war allen Beteiligten klargeworden, daß der ursprünglich geplante Standort des Atommeilers auf einer Tonschicht im Rheintal für den Bau ungeeignet war. Man entschloß sich, den Gebäudekomplex um 70 Meter zu verschieben und nicht mehr in der ursprünglich vorgesehenen Kompaktbauweise zu errichten. In seiner mündlichen Begründung rügte Gerichtspräsident Horst Sendler, daß die Genehmigungsbehörde die Anlage dennoch zunächst nach den ursprünglichen Plänen genehmigte und ganze 11 Tage später die Freigabe für die geänderte Anlage erteilte. Damit wollten Behörde und Betreiber eine Wiederholung des aufwendigen Erörterungstermins aus dem Weg gehen. Die Anlage sei so wesentlich geändert worden, sagte Sendler, daß „Sicherheitsfragen mindestens neu hätten geprüft werden müssen“. Darauf hätte die Behörde jedoch verzichtet und sich damit eines „Prüfungs- und Bewertungsdefizits“ schuldig gemacht. Zwar sei die Eignung des genauen Standpunkt der Anlage in späteren Genehmigungsschritten geprüft worden, Fortsetzung Seite 2

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erklärte das Gericht, dies könne jedoch die Prüfung des „großräumigen Standorts“ nicht ersetzen. Das AKW - 50 Kilometer von Bonn - steht in unmittelbarer Nachbarschaft des Rheins, einer Bundesstraße und einer Bundesbahntrasse.

Das Mainzer Umweltministerium und das Betreiber-Unternehmen RWE bemühten sich gestern um Schadensbegrenzung. Die TEG sei lediglich kassiert worden, weil „Formfehler unterlaufen“ bzw. „Verfahrensmängel“ aufgetreten seien. Das Sicherheitskonzept des Atomkraftwerks, das ähnlich aufgebaut ist wie der Unfall-Reaktor von Harrisburg, sei nicht beanstandet worden. Sendler hatte jedoch ausdrücklich betont, die Genehmigungsbehörde müsse nun „im Grunde erstmalig“ die Eignung des Standortes klären.

Das RWE zeigte sich nach bekanntwerden des Urteils tief beleidigt: Die Stillegung erfolge nach einer „einmalig langen Prozeßdauer“. Mülheim-Kärlich sei „wie kein anderes von den Gerichten geprüft worden“.

Der Ministerialdirektor im Mainzer Umweltministerium, Armin Korn, erklärte selbstbewußt, man „traue sich zu“, den Stillstand am Rhein auf sechs Monate zu begrenzen, falls nicht erneut die Öffentlichkeit beteiligt werden müsse. Ob ein neuer Erörterungstermin - es wäre der vierte unumgänglich ist, wollte Korn ohne genaue Kenntnis des Urteils nicht entscheiden. Da sich „die Rechtskraft erstmal nur auf den Kläger“ beschränke, sei es aber möglich, daß nur er beteiligt zu werden brauche. Wenn das Öffentlichkeitsverfahren vollständig neu aufgerollt werden müsse, bedeute dies ein „open end“.

Hocherfreut zeigte sich Kläger-Anwalt Gerd Klöckner, der über das überraschende Urteil. Klöckner war wie der letzte verbliebene Kläger, Walther Thal, nicht unter den Zuhörern bei der Urteilsverkündung. Daß die rheinland-pfälzische Landesregierung prompt die Stillegung des Reaktors verfügte, sei „eher ein Zeichen von politischem Kalkül als von besserer Einsicht“, meinte Klöckner. Die grüne Bundestagsabgeordnete Lilo Wollny forderte, das AKW müsse nicht nur vorübergehend sondern endgültig abgeschaltet werden. CDU-Sprecher Ludwig Gerstein will prüfen, wie „Fehler im Genehmigungsverfahren“ von AKWs künftig vermieden werden können. Der umweltpolitische Sprecher der Bonner SPD -Fraktion, Harald Schäfer, nannte das Urteil eine „schallende Orhfeige für die Atomlobby“.

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