Seh'n oder Nichtseh'n

■ Gestern in der Redaktion: Schlag auf Schlag zur „Rudi Carrell Show“

Sybille: Ich hab am Samstag zum ersten Mal die „Rudi Carrell Show“ gesehen. Also Til, ich war ja richtig gerührt.

Til: Waas? Gerührt? Das war doch so was von widerlich!

Sybille: Überhaupt nicht. Das ist wie ein riesiger Kindergeburtstag. Mir kam das vor wie aus dem Märchen, als das Wünschen noch geholfen hat.

Til: Wünschen, wünschen. Das ist doch schlimmste Volkes Stimme, die da verbreitet wird. Diese SOS-Kinderdorf-Mutter mit ihren 25 Kindern - also das ist doch dreißiger-Jahre -Ideologie. Widerlich! (Til schüttelt sich, daß es nur so stürmt).

Sybille: Das ist völliger Quatsch. Mit Volkes Stimme hat das gar nichts zu tun. Ich hab mir früher immer gewünscht, daß mal ein Onkel aus Amerika kommt und mir sagt: „Du hast heut‘ schulfrei und darfst dir deinen größten Wunsch erfüllen“, wie Carrell es mit dem Schüler gemacht hat, der mit der Straßenbahn durch Köln fahren wollte.

Til: So was Langweiliges! Da zeigt das Fernsehen, wie einer mit der Straßenbahn durch Köln fährt. Das sind doch lauter konservative Wünsche. Zum Beispiel die Frau, die Waschbrett spielen wollte. Das wünscht sich doch jeder. Und da ist überhaupt nichts Fernsehgerechtes dabei. Höchstens die Frau, die sich das Fallschirmspringen gewünscht hat. Das war gut, aber auch nur, weil die Frau so sympathisch war.

Sybille: Was heißt denn „konservativ“? Wenn Du findest, die Wünsche müßten fernsehgerechter und unterhaltsamer sein - da kann ich Dir noch zustimmen. Aber ein fernsehgerechter Wunsch ist noch lang kein nicht-konservativer Wunsch.

Til: Naja, konservativ ist vielleicht das falsche Wort. Aber diese Ideologie, ääääh, widerlich. Massenwünsche sind das. Kraft-durch-Freude-Entertainment. Nix Witziges, nix Besonderes.

Sybille: Kraft-durch-Freude! Du spinnst wohl. Damit hat das überhaupt nichts zu tun. Ich finde an der Show vor allem eins toll: Daß sie so hemmunglos Füllhorn ist. In allen anderen Unterhaltungsshows wird was geleistet. Da muß man Quizfragen beantworten, schnell sein, siegen. Widerlich. Und gegen dieses hektische Gespucke und Geschleime so was völlig Überflüssiges, Verschwenderisches zu setzen, finde ich richtig schön.

Til: Geschleime, genau! Die „Carrell Show“ find ich schleimig, aber wie! Da hockt die ganze Gemeinde vor dem Bildschirm und ist gerührt.

Sybille: Ja, ich auch. Als die Brieffreundin aus Tokyo reinkam, also da sind mir tatsächlich die Tränen gekommen.

Til: Genau, und allen anderen Idioten auch. Da heult doch jeder. Die ganze deutsche Volksseele heult.

Sybille: Ist doch gar nicht wahr! Was hast Du bloß mit Deiner deutschen Volksseele? Wenn der Weihnachtsmann zur Tür reinkommt und sagt: „Ich kenne Deinen geheimsten Wunsch, und den erfülle ich Dir jetzt“, dann ist doch nicht die deutsche Volksseele gerührt, sondern was ganz Kindliches und Veborgenes. Da liegt für mich der Charme dieser Show.

Til: Ja aber die Wünsche, die sind es doch. Diese blöden, einfallslosen Massenwünsche, die man leicht erfüllen kann.

Sybille: Ja, und warum nicht? Warum denn keine solchen Wünsche? Daß mancher Wunsch für Fernsehunterhaltung vielleicht nicht ergiebig genug ist - meinetwegen. Aber das ist dann höchstens mißlungene Unterhaltung. An der Idee der Show ändert das nichts, und die gefällt mir.

Til: Und diese Sänger-Imitiationen, die sind ja das Allerletzte. Nichts find‘ ich schlimmer als Imitationen.

Sybille: Ich find nichts schlimmer als die Originale, die man in anderen Shows sieht.

Til: Nee, also da sind mir ja sogar die Shows vom Heck noch lieber.

Sybille: Äääääh! (schüttelt sich, daß es nur so stürmt).

Sybille Simon-Zülch