GEGENRHYTHMEN

■ Das Dresdner Staatsschauspiel zu Gast im Schiller-Theater

Die erste Veranstaltung des viertägigen Gastspiels war teils Premiere, teils Wiedersehen mit Bekannten. Der Dresdner Schauspieler Friedrich-Wilhelm Junge hatte mit einem anderen Solo-Programm schon in der Schaubühne gastiert, sein Schlagzeuger Günter „Baby“ Sommer ist häufiger Gast der Jazztage. Neu war das Programm mit Lyrik und Prosa von Johannes Bobrowski (1917-1965): Überwiegend Texte zur NS -Zeit, entstanden in Bobrowskis litauischer Heimat. Ein Prosatext über die Hochzeit eines Hirnverletzten, kurz nach dem Krieg - Bobrowski setzt den kleinen, privaten und den historischen, nationalen Dachschaden miteinander in Beziehung: „Das eine also seit zwei Jahren. Das andere seit wann?“ Bobrowskis Texte kreisen um die historische Schuld der Deutschen an ihren östlichen Nachbarvölkern; um die ersten Nachrichten über Judenvernichtung („muß übertrieben sein“) und um den Nachkrieg, „als das völlige Schweigen an der Reihe war, als man sich selber schon hinweggeschwiegen hatte“. Bobrowskis analytische Prosa findet die Haltungen der Deutschen zu ihrer Geschichte im Gewöhnlichen, im Alltag, in Geschichten aus Kneipe, Krämerladen, Bauernhof. Friedrich-Wilhelm Junge spricht diese Prosa mit leicht ostpreußischer Dialektfärbung; gestisch balanciert er sie zwischen erzählter Anekdote und gespielter Karikatur. Da Junge ein glasklar artikulierender Sprecher mit viel musikalischem Gefühl ist, liegen ihm auch die grüblerischen, traumfernen Gedichte Bobrowskis, mit ihren Naturmetaphern, ihren Bildern von Meer, Himmel, Fluß, Wald und feuchtschwarz glänzendem Pflaster - alles wie durch einen dünnen Gazeschleier gesehen.

Mutig war Junge bei der Wahl seines Musikers; denn Günter Sommer spielt mühelos jeden Schauspieler an die Wand. 75 Minuten lang produziert er - teils solistisch, teils unter Junges Texten - Klänge vom großen Gong bis zum Glockenspiel. Er bläst Ocarina und Krummhorn, schlägt Trommelwirbel mit zwei (heftig staubenden und fusselnden) Federn, spielt heftige und weiche Rhythmen und Gegenrhythmen zu den Texten, zeigt nebenbei in seinen Solopassagen noch Komikertalent.

Junge/Sommers Bobrowski-Programm gibt Gelegenheit, einem halbvergessenen Dichter wiederzubegegnen, dessen Zugehörigkeit zu einem der deutschen Staaten aus seinen Texten nicht abzulesen ist; bei seiner Beerdigung 1965 in Friedrichshagen (DDR) waren Schriftsteller aus beiden Staaten anwesend. Junges Programm wäre auch als Repertoirevorstellung eines West-Berliner Theaters denkbar vorausgesetzt, hier käme jemand auf den Gedanken, die literarischen Moden der Saison zu ignorieren, nur auf schauspielerische und musikalische Qualität zu setzen.

Störfall

Die zweite, erstmals in West Berlin gezeigte Vorstellung, eine Lesung aus Christa Wolfs Tschernobyl-Erzählung „Störfall“, mag für ein DDR-Publikum ihre Bedeutung haben. Der Text assoziiert politische, moralische, historische Fragen und Überlegungen zum Reaktorunfall, die hierzulande weitgehend von den Medien erledigt werden. „Alles, was ich habe denken und empfinden können, ist über den Rand der Prosa herausgetreten“ - Christa Wolfs Monolog zum „Störfall“ bleibt eher unterhalb dieses Randes, resümiert 1986 verbreitete Gefühle von Panik und Erbitterung. Die Farbe des Himmels, die Bedeutung von Wolken, der Verdacht, der plötzlich auf nassem Rasen oder Spinat liegt, die Unmöglichkeit, von „strahlendem Himmel“ zu reden - Christa Wolfs Tagebuch-Monolog bleibt im Persönlichen hängen, dokumentiert die Kapitulation vor dem Thema, das sich der Gestaltung verweigert. Helga Werner vom Dresdner Staatsschauspiel müht sich redlich, den Text dramatisch zu akzentuieren, legt „Wut“, „Trauer“, „Nachdenklichkeit“ auf; ihr angestrengter Gestus des Verkündens doppelt die Hilflosigkeit des Textes. Christian Münchs „Klaviervariationen“, von Bettina Otto gespielt, liefern dazu atonal überspannte Akzente, wilde Akkordschläge und chromatisches Gedudel, ungewollt makabre Komik. Das Publikum in der Schiller-Theater-Werkstatt nahm's ehrfürchtig hin.

Nibelungen

Das Kernstück des Dresdner Gastspiels, Wolfgang Engels fünfeinhalbstündige Inszenierung der „Nibelungen“, versucht, Hebbels 1860 geschriebene Version des deutschen Nationalepos zu öffnen, über die Grenzen des „deutschen Trauerspiels“ hinaus zum Blick auf die „Epochen-Problematik“ zu nutzen: „Die Menschheit kann sich für ein Zusammenschließen und für eine Lebensgeschichte entscheiden, was überprüfbar ist. Sie kann auch ein Auseinandergehen und ihre Beerdigung wählen, was nicht überprüfbar ist.„(Programmheft) Hebbels Tragödie zeigt am entmythologisierten „Nibelungen„-Stoff die Alternative „Beerdigung“, an deren Ende einer der wenigen Überlebenden halb widerwillig die Macht übernimmt.

Im Zentrum der Inszenierung stehen die zwei Frauen; daß Krimhild und Brunhild zwischen zwei Männern, zwischen zwei Reichen als tauschbare Größen verschoben werden, setzt die Maschinerie von Mord und Blutrache in Gang. Die Unterwerfung der Frauen leitet die Selbstzerstörung der Männer ein; Krimhilds Anpassung an den Männermechanismus der Rache und Brunhilds Rückzug ins Schweigen sind zwei Seiten der Unterwerfung. Die Männer sind Masken, Funktionen des Schlachtens als Mittel, dessen Zweck immer mehr aus dem Blick gerät. Die „deutscheste“ Figur ist in Engels Interpretation der dritte Protagonist: Hagen, der Mann in der zweiten Reihe, der Bürokrat, der gradlinig denkende, uncharismatische Pragmatiker der Vernichtung.

Engels Nibelungen öffnen mit visuellen Versatzstücken die Perspektive auf deutsche Geschichte vom Mittelalter bis zur DDR-Gegenwart. Die Schauspieler tragen Biedermeier-Gehröcke, preußische Kadettenuniformen, Gestapo-Ledermäntel, NVA -Uniformen, heutige Alltagskleider; gekämpft wird mit mittelalterlichen Speeren, Gewehren des 19.Jahrhunderts, Maschinenpistolen. Daß Engels Konzeption über weite Strecken der strapaziösen Vorstellung aufgeht, liegt aber mehr an der Kunstfertigkeit, mit der das Ensemble Hebbels Verse zum Verschwinden bringt, flüssig und direkt klingen läßt. Die Inszenierung findet simple, verblüffend einleuchtende Bilder für physische und psychische Gewalt, deren Träger allesamt selbst Objekte einer systematischen Verblendung sind. „Sie haben einen archaischen Anspruch, so groß wie das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig und einen Horizont, als seien sie aus dem Hühnerhof nicht herausgekommen“ (Wolfgang Engel). Ein paar Sekunden Stechschritt hat sich Engel als Hieb gegen aktuelle DDR-Verhältnisse nicht verkneifen können.

Das Publikum im Schiller-Theater folgte der Inszenierung konzentriert und mit viel Szenenbeifall; nur manchmal kam leise Heiterkeit auf - etwa, wenn die Krieger sich zur Beratung in ein Pissoir zurückziehen, das stark an die berüchtigten Intershop-Klos erinnerte.

kno