Die Krähen und der Nestbeschmutzer

Im größten medizinischen Kunstfehlerprozeß der Bundesrepublik geht es in Hamburg um die chirurgischen Fähigkeiten des angeklagten Chefarztes Professor Bernbeck - zwei Gutachter üben sich in Korpsgeist, der dritte Gutachter betreibt Kollegenschelte und wird deshalb als unglaubwürdige Niete hingestellt  ■  Aus Hamburg Gabi Haas

Professor Rupprecht Bernbeck, ehemaliger Chef-Orthopäde eines großen Hamburger Krankenhauses und angeklagt wegen fahrlässiger Körperverletzung in fünf Fällen, hat nichts von seiner früheren Selbstherrlichkeit verloren: „Meine wissenschaftlichen Operationsmethoden stehen weder zur Diskussion noch zur Disposition.“ Doch hier irrte der 71jährige Skandalprofessor gründlich: Denn der seit Juni laufende Prozeß (die taz berichtete) ist inzwischen zur Bühne eines spektakulären Gutachterstreits um ärztliche Aufklärungspflichten und Operationswütigkeit in der deutschen Orthopädie geworden, zu deren prominentesten Repräsentanten der Angeklagte gehört.

Vor genau zwei Jahren hatte sich der Ex-Chefarzt des Barmbeker Krankenhauses schon vor einem parlamentarischen Ausschuß der Bürgerschaft wegen des Vorwurfs, Hunderte von Patienten zu Krüppeln operiert zu haben, verantworten müssen. 242 dieser Patienten stellten bei der Gesundheitsbehörde Antrag auf Schadenersatz, davon sind bisher 108 Fälle abgeschlossen. Immerhin 14 Millionen Mark hat der Hamburger Senat bisher an die Bernbeck-Geschädigten ausgezahlt, von denen aber nur fünf Strafanzeige stellten. Alle anderen Fälle waren bereits verjährt.

„Ich sehe meine Funktion hier hauptsächlich darin“, hatte der von Bernbecks Verteidigern ins Verfahren hineinbugsierte Sachverständige Professor Heinz Mittelmeier (60) denn auch offenherzig klargestellt, „daß verhütet werden möge, daß das Gericht Behandlungsmethoden beurteilt, wie es nur Ärzte vermögen.“ Und sein Gutachterkollege Professor Hans Mau schlug in dieselbe Kerbe: „Das Ausland blickt auf diesen Prozeß. Es ist nicht Sache des Gerichts, Indikationen zu stellen.“ Doch genau zu diesen Problembereichen wird die Große Strafkammer des Hamburger Landgerichts Position beziehen müssen, dafür hat der dritte Prozeßgutachter mit seiner scharfen Kritik an der Bernbeckschen Indikationsstellung und Operationsmethode gesorgt. Dr.Klaus Zobel (67) unterscheidet dreierlei von seinen Sachverständigenkollegen (wie übrigens auch vom Angeklagten selbst): Weder besitzt er einen Professorentitel, noch trägt er schwer am Amt eines Ordinarius oder Klinikchefs - und er ist bereit, Kollegenschelte zu betreiben.

Seine Kernaussage: „In der Orthopädie in unserem Lande wird viel zu viel operiert.“ Der Griff zum Messer oder zur Säge habe für den Mediziner etwas „Verführerisches“, helfe er doch dem Selbstbewußtsein des Arztes, der allzu oft vor dem Schicksal Kranker kapitulieren müsse. Das Übel sei schon strukturell im Ausbildungssystem angelegt, wo jeder Orthopäde oder Unfallchirurg an die fünfhundert Operationen an den verschiedensten Gliedmaßen vorweisen müsse, um seinen Facharzt zu bekommen. Zobel: „Das hat schon mal Einfluß auf die Indikationsstellung.“

Was nun die Indikation und Operationsmethode im Fall Reiner Janke betrifft - der erste von fünf Bernbeck-Patienten, dessen Leidensgeschichte vor Gericht verhandelt wurde -, so gehen die Gutachtermeinungen weit auseinander. 1979 wollte sich der damals 28jährige Janke von dem berühmten Professor seine O-Beine operativ begradigen lassen, in der Annahme, es handele sich um einen risikolosen Routine-Eingriff. Doch Bernbeck wählte ohne vorherige genauere Aufklärung eine extrem seltene Operationsmethode mit hohem Infektionsrisiko. Dabei wurde ein langer Schrägschnitt in der für eine Knochenheilung ungünstigsten Mitte der Schienbeine geführt, die dann auch noch gedreht und mit einem Stück Fremdknochen wieder zusammengeflickt wurden. In der Folge kam es bei Janke zu einer beidseitigen Knochenmarksentzündung, die Schienbeine sind nach 38 Nachoperationen bis heute noch nicht wieder ganz zusammengeheilt. Keiner der drei Gutachter, das bekannten sie vor Gericht, hätte sich an diese Technik herangetraut. Gleichwohl verteidigten Mittelmeier und Mau („Mir ist durchaus unbehaglich dabei.“) den Bernbeckschen Schrägschnitt, der zwar „Schwachpunkte“ aufweise, aber durch die ältere Literatur gedeckt sei. Mau, der in einem vorher schriftlich eingereichten Gutachten noch erklärt hatte, er könne nicht nachvollziehen, was der Angeklagte sich bei dieser Technik gedacht habe, begründete den überraschten Richtern seinen Standortwechsel so: „Ich habe nach Rücksprache mit Prof.Mittelmeier noch etwas dazu gelesen.“

Anders Zobel, der dem auch „Flinkes Messer“ genannten Bernbeck einen „geometrischen Irrtum“ und „sehr grobe Fehler“ bescheinigte. Auch die verspätet begonnene Infektionsbehandlung mit Antibiotika - von Mau als „Irrtum eines erfahrenen Kollegen“ bezeichnet - sei „völlig unverständlich“. Mitgutachter Mittelmeier, „der sich offensichtlich ein bißchen mitangeklagt fühlt, weil Bernbeck ein Kollege von ihm ist“, warf Zobel fehlende „Wahrhaftigkeit“ im Umgang mit der Literatur vor, und Mau rügte er, weil dieser sich vor Gericht gegen eine allzu gründliche Aufklärung von Patienten gewandt hatte. Das Mau -Argument, die Patienten könnten sonst „abgeschreckt“ werden, konterte Zobel: „Das wäre sicher nicht so schlecht.“

Auch der Angeklagte ergriff das Wort und machte unmißverständlich klar, in welche Richtung seine Prozeßstrategie zielt: Gutachter Zobel als Schaumschläger und fachliche Niete zu entlarven. Dessen Ausführungen, so Bernbeck, seien nichts als „angelesene Halbweisheiten“ und „unseriöse Puppenspielereien“. Weil aber die Anfragen seiner Verteidiger bezüglich der Qualifikation des Orthopäden Zobel bei der Ärztekammer an „der Schallmauer des Datenschutzes zerschellt“ seien, verlegte der im bayerischen Starnberg noch immer frei praktizierende Bernbeck sich auf detektivische Methoden, um Zobels angebliche Inkompetenz zu beweisen: Er schickte eine „nahe Verwandte unter ihrem Mädchennamen“ in die in Lindau am Bodensee gelegene Praxis Zobels, um dort ein bißchen herumzuspionieren.

Seine zweifelhafte Enthüllung: Zobels Praxis samt ambulantem Operationssaal sei im ersten Stock eines Altbaus gelegen und nur über eine Treppe zu erreichen. Der Gutachter, der ihm „Operationswütigkeit“ vorgeworfen habe, habe der Spionin doch tatsächlich zu einer Zehenoperation geraten. Wie sich später herausstellte, handelte es sich um die Beseitigung eines Hühnerauges.