Sowjetbotschafter: Dubcek war Vorläufer Gorbatschows

Rom (taz) - Italiens Medien kommen aus dem Staunen nicht heraus: gerade als sie beim jährlichen „Festa dell'Unita“ in Florenz ausholten, um auf Sowjetbotschafter Lunkow einzuhauen, weil die tschechische Regierung den ebenfalls eingeladenen Alexander Dubcek nicht ausreisen lassen wollte (er darf nun aber definitiv im November zur Verleihung einiger Preise und Doktortitel kommen), da nahm ihnen der Kreml-Abgesandte das Wort aus dem Mund: „Dubcek“, sagte er „schätzen wir alle sehr. Er ist zweifellos ein früher Vorläufer Gorbatschows, ein Mann der Perestrojka und des Glasnost.“ Es ist das erste Mal, daß ein hochrangiger und offenbar autorisierter Vertreter Gorbatschows gleichsam ex cathedra einen in Ungnade gefallenen Antistalinisten eines andere Ostblocklandes öffentlich rehabilitiert, noch dazu im Westen. Minutenlanger Beifall war die Reaktion des Publikums und auch der versammelten Führer der italienischen Kommunistischen Partei (PCI). Deren Gesichter wurden allerdings etwas länger, als Lunkow dann auch noch von dem am selben Tag in Moskau publizierten, aber zu diesem Zeitpunkt in Florenz noch nicht bekannten „offenen Brief“ des ZK-Mitglieds Zagladin mit der Aufforderung zur „Abrechnung mit dem Stalinismus“ berichtete. Der Hinweis auf die schleppende Bearbeitung des Falles der Verwicklung des früheren Parteichefs Togliatti in stalinistische Manöver war offenkundig; und der aus dem Publikum hochbrausende Beifall zeigte Italines Ober-PCIlern deutlich, daß das Fußvolk die Maulschelle für ihre Führer billigt.

Werner Raith