Nachkriegsjustiz am Pranger

■ Historiker-Symposium zum 30jährigen Bestehen der Fahndungsstelle für nationalsozialistische Verbrechen Internationale Gäste kritisieren Milde der bundesdeutschen Justiz / Nur wenige deutsche Richter anwesend

Berlin (dpa/taz) - Historiker und Strafverfolger aus dem In und Ausland trafen sich in der vergangenen Woche anläßlich des 30jährigen Bestehens der weltweit größten Fahndungsstelle für nationalsozialistische Verbrechen in Ludwigsburg zu einem dreitägigen Symposium. Geburtstagsstimmung kam nicht auf, statt dessen hagelte es Kritik an der Aufarbeitung von NS-Verbrechen durch die bundesdeutsche Justiz. Schon die Gründung der 1958 von den Justizministern der Länder eingerichteten Zentralstelle weist auf einen typischen „Geburtsfehler“ der NS -Verbrechensverfolgung in der BRD hin: Der erste Leiter der Zentralstelle, Oberstaatsanwalt Erwin Schüle, war selbst, wie erst Mitte der 60er Jahre bekannt wurde, NSDAP- und SA -Mitglied. Erst 1966 wurde er abgelöst.

Von insgesamt 90.000 Ermittlungsverfahren führten in 30 Jahren nur 6.500 zu Verurteilungen.

Der heutige Leiter der Zentralstelle Alfred Streim führte als Grund dafür vor allem „formale“ Probleme an. Daß die Milde der bundesdeutschen Justiz auch ein Generationenproblem der Juristen ist, wurde während des Symposiums offiziell nicht zum Thema, sondern lediglich in den Wandelgängen angesprochen. Schließlich, so ein Tagungsteilnehmer, habe es nach 1945 zu wenige von der Vergangenheit unbelastete Juristen für die zahllosen Ämter in der bundesdeutschen Justiz gegeben. Da seien eben auch ehemalige NSDAP-Mitglieder wieder auf Richtersessel gerutscht.

Ohnehin, so die einhellige Meinung der ausländischen Gäste, seien allzu viele Nazi-Verbrecher ungeschoren davongekommen. Nicht einmal der Prager Gestapo-Chef, klagte ein tschechischer NS-Fahnder, und nicht einmal der damalige Nürnberger Polizeipräsident, kritisierte ein israelischer Historiker, seien in der Bundesrepublik vor Gericht gestellt worden. Der Prager Gestapo-Chef Ernst Gehrke etwa konnte weitgehend unbehelligt in Bethel (Bielefeld) bis zu seinem Tode im Jahre 1982 leben. Ermittlungsverfahren gegen ihn seien von der Staatsanwaltschaft Dortmund eingestellt worden. Als Begründung, so Karel Kamis von der tschechischen Regierungskommission zur Verfolgung von Nazi-Verbrechern, sei angeführt worden, daß Gehrke ein persönlich ausgeführter Mord nicht nachgewiesen werden konnte. „Wenn man es so sieht, könnte man nicht einmal Hitler wegen Mordes verurteilen“, meinte Kamis bitter.

Hitzige Debatten gab es bei dem Symposium trotz der harschen Kritik an der bundesdeutschen Justiz nicht. Denn man war weitgehend unter sich. Die deutschen Teilnehmer waren mit wenigen Ausnahmen (Dr.Meyer, Richter beim BGH, der Historiker Wolfgang Scheffler, Gutachter in zahlreichen NS -Prozessen) Staatsanwälte. Und die sind trotz allem oftmals auch nicht glücklich darüber, daß die mühevollen Vorermittlungen der Zentralstelle so selten zu Verurteilungen führten.

Kritisiert wurden auf dem Symposium auch die restriktiven und strengen Archivregelungen. Nach Ansicht des amerikanischen NS-Fahnders Neal Sher erweckt die Bundesrepublik den Eindruck, ihre Archive erst dann öffnen zu wollen, „wenn der letzte Nazi gestorben ist“. Oberstaatsanwalt Streim meinte dazu, die Zugänglichkeit von Akten sei durch datenschutzrechtliche Regelungen im neuen Archivgesetz sogar noch erschwert worden. Das Problem liege darin, daß der einzelne Archivar eine „Ermessensentscheidung“ treffen könne. Andererseits wurde auch kritisch vermerkt, daß der Drang der bundesdeutschen Historikerzunft, zumindest der heutigen Lehrstuhlinhaber, sich mit den NS-Verfahren oder mit dem Material aus den Archiven intensiv zu beschäftigen, bisher nicht allzu groß war.

mtm