Die Welt hat Geburtstag: Schana Towa!

■ Prost Neujahr / Für Juden hat das Jahr 5749 begonnen

Schana Towa! Ein gutes neues 5749! Zu Rosch Haschana, dem jüdischen Neujahrsfest, besuche ich erstmals seit langer Zeit wieder einen Gottesdienst. Ich gehe zur Synagoge am Fraenkelufer. Sie ist klein, im Gegensatz zu den Synagogen in der Pestalozzi- und Joachimsthaler Straße, hat keinen eigenen Rabbiner, dafür aber einen sephardischen Kantor, der fast so schön singt wie der weltberühmte Estrongo Nachama in der Pestalozzistraße.

Ich bin eine sogenannte „Drei-Tages-Jüdin“, das heißt, ich gehe wie die meisten Juden auf der Welt nur zu den drei wichtigsten Feiertagen im Jahr in die Synagoge - wenn überhaupt! Einer dieser Feiertage ist Rosch Haschana. Normalerweise sind die Synagogen leer, heute sind sie gerappelt voll. Obwohl es meiner Überzeugung widerspricht, steige ich - mich den Konventionen der Synagoge beugend die Treppe hoch zum Frauenteil des Hauses - eine Art Balkon, von wo aus man die Männer kaum sehen kann. Dort im Gewühl der überaus schick angezogenen Frauen und Mädchen treffe ich unerwartet eine gute Bekannte von mir. Sie ist viel „linker“ und feministischer als ich. Schmunzelnd wünschen wir uns ein Schana Towa.

Ich glaube, daß es im Innern aller Synagogen auf der Welt gleich klingt: Die Männer murmeln auf Hebräisch vor sich hin, halb singend, halb brabbelnd. Ab und zu wird dieses Dauergeräusch unterbrochen von einem laut und deutlich ausgesprochenen „Amen“. Die Kinder spielen, laufen hin und her, rennen hoch zu den Frauen, von denen sich viele unterhalten und nur wenige beten. Nur, wenn sich die Männer unten erheben, zum Beispiel der Thora-Schrank geöffnet wird, dann stehen oben auch die Frauen auf und sind für eine kurze Zeit still.

Ich fand es schon immer faszinierend, daß die Juden mitten im Jahr ein eigenes Neujahr feiern. Zwar lebe ich völlig nach dem lateinischen Kalender, doch zieht sich das Wissen um die jüdische Zeitrechnung stets durch mein Bewußtsein. Die Juden haben nicht nur viel früher angefangen, die Jahre zu zählen, sie glauben darüber hinaus, daß die Welt im Jahre Null erschaffen wurde. Sie sind, sofern ich weiß, das einzige Volk, das den Geburtstag dieser Welt feiert. Die Thora ist zu Ende gelesen. Überall fängt man wieder bei den Abschnitten über die Erschaffung der Erde an.

Das wichtigste an Rosch Haschana ist das Blasen des Schofars. Das ist ein Widderhorn, aus dem nur mit sehr viel Kraftanstrengung bestimmte Laute geblasen werden können. Sie klingen nach einem verzweifelten, gleichzeitig aber Erleichterung ankündigenden Schrei. In allen Synagogen der Welt ertönen heute diese Laute. Schon im Sinai sollen die Juden vom Schofar zusammengerufen worden sein, als ihnen Moses die zehn Gebote verkündete.

In einem der Gebote steht: „Stoße in das große Schofar zu unserer Befreiung und gib das Zeichen zur Versammlung unserer Verbannten, führe heim die Zerstreuten Israels aus den Völkern und bringe sie von den Enden der Erde in Jubel nach Zion“. Rosch Haschana ist nicht nur ein Freudenfest. Es leitet gleichzeitig die zehn Bußtage ein. Der Mensch muß vor Gott eine Bilanz des vergangenen Jahres ziehen und sich vornehmen, es im neuen Jahr besser zu machen. Am Ende dieser Tage findet Jom Kippur, das Versöhnungsfest, statt.

Der Gottesdienst endet mit einer allgemeinen Umarmung. Wildfremde Frauen küssen mir die Wange und wünschen mir ein gutes neues Jahr. Wir gehen nach unten. Dort kommen die Männer aus dem Betraum. Wieder umarmen sich alle. So ist es schon seit Tausenden von Jahren. Ich werde sentimental: Überall umarmen sich jetzt Juden - egal ob in der Synagoge in Ost-Berlin, in der amerikanischen Synagoge bei den Alliierten, oder in den drei West-Berliner Synagogen, in Israel, in New York oder in Moskau.

Elisa Klapheck