„Reform ist zur Zeit nicht populär“

■ Interview mit Ungarns Wirtschaftsfachmann Rezsö Nyers / Votum für „mehr Markt“ und unabhängige Gewerkschaften

taz: Herr Nyers, in Ungarn ist der Reformprozeß an einen Punkt gekommen, an dem grundlegende sozialistische Prinzipien wie staatliches Eigentum an Produktionsmitteln, das Recht auf Arbeit und die kostenlosen sozialen Dienste in Frage gestellt werden. Ist der Sozialismus der härteste und umständlichste Weg vom Kapitalismus zum Kapitalismus, wie es in Ungarn zu hören ist?

Rezsö Nyers: Als Bonmot kann man das vielleicht gelten lassen, als Beschreibung der gesellschaftlichen Wahrheit aber nicht. Wir brauchen zwar mehr Markt, um wettbewerbsfähig zu werden. Aber mehr Markt bedeutet nicht automatisch Kapitalismus. Unser Ziel ist eine sozialistische Marktwirtschaft.

Haben Sie dabei noch die Unterstützung der Bevölkerung? Bei Reallohneinbußen von mindestens neun Prozent ist die Wirtschaftsreform zur Zeit alles andere als populär.

Das stimmt. Die Bevölkerung empfindet den wirtschaftlichen Druck als sehr stark. Leute, die den Überblick über die Lage haben - die Intelligenz, auch die Arbeiterintelligenz unterstützen den Reformkurs zwar weiterhin, aber bei den breiteren Schichten geschieht das in immer geringerem Maße. Das ist ziemlich gefährlich. Wir müssen aus dieser wirtschaftlichen Lage herauskommen, denn die Leute ertragen sie nicht mehr lange. Aber das geht nur mit Reformen.

An welche Reformen denken Sie denn in Bezug auf das Privateigentum?

Beim Privateigentum steht für uns derzeit die Frage im Vordergrund: Wie können die Ersparnisse der Bevölkerung als Kapital eingesetzt werden? Da gibt es zwei Möglichkeiten. Einmal kann jemand als Unternehmer tätig werden. Diese Möglichkeit sollte verbessert werden, indem beispielsweise einige Auflangen für die Privatwirtschaft abgebaut werden. Zum anderen sollten sich die Leute mit ihren Ersparnissen stärker am Staatskapital beteiligen. In Zukunft wird es auch für Privatleute die Möglichkeiten geben, Aktien von staatlichen Unternehmen zu erwerben.

Dabei besteht ein wesentlicher Unterschied zur kapitalistischen Kapitalbildung: Die Erpsarnisse stammen aus der sozialistischen Güterverteilung, und bei den Investitionsentscheidungen steht das Gemeinwohl im Vordergrund.

Den Unterschied verstehen wir nicht ganz.

Wenn ein größeres kapitalistisches Unternehmen wie Siemens oder IBM investiert, geschieht das vornehmlich unter dem Gesichtspunkt des Eigeninteresses. Bei einer sozialistischen Investition dagegen sollten die Investoren von vornherein die Interessen der ganzen Bevölkerung in Betracht ziehen. Das ist ein grundsätzliches sozialistisches Prinzip.

Wir sind gespannt, wie Sie dieses grundsätzliche sozialistische Prinzip mit der Marktwirtschaft unter einen Hut bringen wollen.

Wir Kommunisten wollen einen Kompromiß mit der Marktwirtschaft finden. Wir meinen aber, daß auf diesen Markt stärker eingewirkt werden muß als dies in kapitalistischen Staaten getan wird. Wir meinen auch, daß das Gemeineigentum eine besondere Rolle spielen sollte. Bei dieser Eigentumsform würde sich der Besitz nicht mehr in den Händen des Staates konzentrieren, sondern auf viele Gemeineigentümer verteilen. Dazu werden in Zukunft auch die Aktiengesellschaften gehören.

In diesem Zusammenhang wird ein Vorschlag des ungarischen Ökonomen Marton Tardos diskutiert. Er sieht vor, daß Versicherungen vom Staatshaushalt abgetrennt werden und als eigenständige Gesellschaften Kapitalanteile an staatlichen Unternehmen erwerben können.

Damit bin ich einverstanden. Diese Versicherungen stehen schließlich unter gesellschaftlicher Kontrolle, und wenn ich sage, daß Volkseigentum nicht nur Staatseigentum sein sollte, denke ich auch an diesen Vorschlag. Wir müssen dabei aber demokratischere Formen finden, als sie in den kapitalistischen Ländern existieren. Wir dürfen zum Beispiel nicht zulassen, daß einige Versicherungen ein Machtmonopol erhalten.

Wird denn jetzt im ZK und im Politbüro offen über solche Vorschläge diskutiert?

Bis etwa 1968 waren die Möglichkeiten zur Auseinandersetzung sehr eingeschränkt. Es gab starke ideologische Beschränkungen, und solche Vorschläge hätten nicht aufgegriffen werden können. Heute kann zwar noch nicht alles offen diskutiert werden, aber ein solcher Vorschlag schon.

Man hört in Ungarn die These, daß der Bevölkerung nur deshalb mehr politische Freiheiten zugestanden werden, damit sie eher bereit ist, die wirtschaftlichen Lasten zu tragen. Wird von Demokratie keine Rede mehr sein, wenn sich die wirtschaftliche Lage bessert?

Zunächst einmal glaube ich nicht, daß die wirtschaftliche Unzufriedenheit durch politische Reformen gemildert werden kann. Der Durchschnittsbürger ist in seinem Urteil sehr streng, und er erwartet zuallererst eine Verbesserung seiner persönlichen wirtschaftlichen Lage. Allenfalls auf die Intelligenz könnte mehr politischer Freiraum beruhigend wirken. Zwischen wirtschaftlicher und politischer Reform besteht allerdings ein Zusammenhang. Die Wirtschaftsreform schließt eine gewisse Demokratisierung ein, denn über die einzelnen Schritte muß diskutiert und gestritten werden. Aber das Mehr an politischer Freiheit darf nicht zurückgenommen werden, wenn sich die wirtschaftliche Lage bessert.

Kürzlich ist in Ungarn eine unabhängige Gewerkschaft von Wissenschaftlern gegründet worden, andere Berufsgruppen wollen dem Beispiel folgen. Was halten Sie denn davon?

Diese Bestrebungen sind so lange gerechtfertigt, solange die bestehende Gewerkschaft ihre starren Strukturen behält. Ich kann mir vorstellen, daß unabhängige Gewerkschaften in Ungarn arbeiten. Dadurch bricht der Sozialismus nicht zusammen.

Interview: Christine Mattauch/Wolfgang Otto