Reformeifer in Ungarn

Berlin (taz) - Als erstes sozialistisches Land will Ungarn demnächst diplomatische Beziehungen mit Südkorea aufnehmen. Das asiatische Aufschwungland gilt als Vorbild für die Magyaren, die selbst in einer ernsten wirtschaftlichen Krise stecken. Die Brutto-Auslandsverschuldung Ungarns liegt bei 16 Mrd. Dollar, das ist die höchste Pro-Kopf-Verschuldung unter den Ostblock-Ländern. Das Haushalts-Defizit beträgt 35Mrd. Forint (fast 1,3 Mrd. Mark). Die Industrie arbeitet unrentabel und mit niedriger Arbeitsproduktivität.

Um die Wirtschaft auf Touren zu bringen, wollen die Ungarn auf Rezepte des Kapitalismus zurückgreifen: Angesagt ist die Ausweitung der Marktkonkurrenz, die Stärkung des privaten Unternehmertums, die konsequente Schließung unrentabler Betriebe. Bis Anfang 1989 soll sogar eine Börse mit regulärem Aktienhandel installiert werden - wenn auch zunächst nur in nationalem Rahmen. Bei all dem stehen grundlegende sozialistische Prinzipien zur Disposition - das Recht auf Arbeit, der Staat als Eigentümer der Produktionsmittel, die kostenlose Krankenversorgung.

Bei der Bevölkerung hat das Wort Reform seinen ehemals guten Klang verloren. Bescherten die Reformen von 1968 den Ungarn noch einen hohen Lebensstandard mit vergleichweise paradiesischen Konsum-Möglichkeiten, so heißt Reform heute in erster Linie: „Den Gürtel enger schnallen.“ Bis zum Ende dieses Jahres erwartet man eine Inflationsrate von 25 Prozent, gleichzeitig wird der forcierte Strukturwandel schätzungsweise 50.000 bis 60.000 Ungarn arbeitslos machen.

Zum Stand und zur weiteren Entwicklung der ungarischen Reformen sprach die taz mit Rezsö Nyers, Politbüro-Mitglied und einer der führenden Wirtschaftstheoretiker in Ungarn. Der 65jährige gilt als Vater der Wirtschaftsreform von 1968 und gehört heute zu den eifrigsten Verfechtern des Reformkurses.

chris/wo