Europa 1992 - keine Alternative in Sicht

■ taz, IL Manifesto (Italien), Politis (Frankreich) und Falter (Österreich) suchen nach grünen Gegenkonzepten zum offiziellen Europa 1992

Europas Wirtschaft und Kapital organisiert sich längst für 1992, selbst in Ländern wie Österreich, der Schweiz, Schweden, die selbst gar nicht von der Grenzöffnung betroffen sind, ist das Europa-Fieber ausgebrochen. Merkwürdige Stille dagegen auf der Linken und bei den Grünen: von Gegenkonzepten ist kaum etwas zu spüren, noch nicht einmal eine Bestandsaufnahme, geschweige denn eine Diskussion hat begonnen. Die folgende, am Sitz des taz -Italienkorrespondenten Werner Raith in Terracina geführte Diskussion sollte den Stand der Dinge in drei Ländern klären helfen: Frankreich, Italien, Bundesrepublik. Die Gesprächsteilnehmer: Pierre Juquin (Paris), Sergio Andreis (Rom) und Udo Knapp (Bonn). Das Gespräch führten Werner Raith, taz-Frankreich-Korrespondent, Georg Blume und Bernard Umbrecht (Politis).

taz: Um nicht aneinander vorbeizureden erstmal die Frage an jeden von euch, was er denn unter den verschiedenen Europamodellen - Europa der EG, also der zwölf Mitgliedsstaaten, Westeuropa insgesamt, Europa bis zum Ural etc. - als „sein“ Europa ansieht.

Pierre Juquin: Ich stelle mir Europa nicht vor als Staat, also weder als EG noch als West- oder Osteuropa oder beides zusammen. Die Frage ist für mich, ob es hier in dem geographischen Europa eine gemeinsame Kultur gibt. Ich würde sagen, es gibt sie, zumindest teilweise. Wenn man aus Afrika zurückkommt oder von Neukaledonien, empfindet man Europa als eine Wirklichkeit. Eine zweideutige allerdings - vor allem im Hinblick auf die Dritte Welt. Europa hat meiner Meinung nach nur eine Zukunft in dem Maß, in dem es sich in einen Prozeß der Neuordnung gerade im Hinblick auf die Dritte Welt einfügt - und dabei nicht als imperialistische Macht auftritt, die ihre eigene Kultur, ihre Überlegenheit, ihre Lebensart und ihre Betrachtungsweise der Gesellschaft und der Produktivkräfte den anderen aufdrängt. Es besteht aber die Gefahr, und das ist diese Zeideutigkeit, daß Europa gerade auf diese letztere Form hinausläuft; und da erweckt es mehr Angst als Hoffnung und wird, auf Dauer, wohl auch keine wirkliche Zukunft haben. Europa kann sich nicht finden als dritter Block, eingezwängt zwischen den beiden großen Blöcken Ost und West; es kann aber eine entscheidende Rolle bei der Auflösung dieser Blöcke zugunsten eines Nord-Süd -Dialogs spielen. Hierzu hat der sogenannte Brandt-Report sicherlich viele richtige Fragen gestellt, wenngleich seine Antworten dann doch fraglich sind.

Udo Knapp, dein Europa-Verständnis?

Udo Knapp: Da muß ich zuerst sagen, daß zumindest meine Freunde und ich und auch unser ganzes Umfeld zu Europa immer ein eher komisches Verhältnis haben - komisch bis gar keines. In der Bundesrepublik ist es ein viel größeres Problem, die deutsche Tradition, die deutsche Vergangenheit zu bewältigen und in eine neue, eine demokratische oder republikanische Perspektive zu bringen. Der transnationale Gedanke, der mit Europa verknüpft ist, ist daher eher etwas für die Sonntagsreden der etablierten Parteien. Das ist das eine. Das andere aber ist, daß sich nun durch die Fakten sehr viel zu ändern beginnt, und davon muß man einfach ausgehen: die EWG ist eine politische Realität, deren Konsequenzen erst langsam in die Gehirne der Leute eintreten. Erst dieses Zurkenntnisnehmen löst nun allmählich eine politische Debatte aus, die aber nicht bei den Grünen geführt wird, sondern da, wo sie auch hingehört, bei den Intellektuellen und allgemein in der Gesellschaft. Vielleicht werden mich die Grünen im Parlament dafür prügeln, aber ich habe den Eindruck, daß das so ist. Ansonsten sehe ich persönlich, wie Pierre Juquin eben, daß Gorbatschows Gemälde vom „Vierten Reich“ zwischen den USA, der UdSSR und Japan eine ziemlich präzise Beschreibung eines Europa ist, wie wir das nicht wollen.

Eine dritte oder vierte Weltmacht zu etablieren lehne ich ab. Ich will es daher umgekehrt formulieren: für mich ist Europa eine Chance - weil es zum Glück nicht in der Lage ist, eine militärische Großmacht zu sein, weil es sich nicht einmal selbst verteidigen kann und als Weltmacht ausgespielt hat. Der zweite wichtige Punkt ist für mich, daß Europa das Zentrum der westlichen Zivilisation ist; geistig und kulturell gibt es einen direkten Weg aus Athen über die Humanisten in Italien und zur Französischen Revolution bis zu dem, was sich jetzt an demokratischer Kultur in Westeuropa etabliert hat. Darum muß man auch in der europäischen Diskussion die Frage der Demokratie ins Zentrum rücken. Dritter Punkt schließlich ist für mich, daß diese Weiterentwicklung der Demokratie nicht nur aus Westeuropa kommt, sondern auch aus den Impulsen, die Ungarn, Polen, die Tschechoslowakei geben, wo die Stadt gegen den Staat aufsteht und den Etatismus überwindet. Daß als letzter Punkt natürlich Ökologie dazukommt, und nicht nur dazukommt, sondern in den Mittelpunkt rückt, ist klar, insbesondere weil es notwendig ist, das Verhältnis des Menschen zur Natur neu zu bestimmen. Wenn Europa eine ökologische Wende formulieren könnte, also die Länder, die den Industrialismus auf den Weg gebracht haben, dann würde Europa für den Rest der Welt eine wichtige Funktion übernehmen.

Auch deine Meinung, Sergio Andreis?

Sergio Andreis: Zunächst einmal die Feststellung, daß die Europafrage in Italien genauso wie bei euch anderen kein dominantes Problem ist. Bei uns Grünen hängt das auch damit zusammen, daß wir sehr pragmatisch sind und die Europafrage derzeit noch immer als viel zu ideologisch empfinden. Es gibt aber eine wachsende Neugier bezüglich europäischer Fragen. Diskussionswürdig ist das Thema - schon alleine deshalb, weil es ein Europa ja schon gibt, das Europa der großen Manager und Konzerne, wie ja der Coup des Olivetti -Chefs De Benedetti gegenüber der belgischen Societe Generale gezeigt hat. Bislang haben wir keinen alternativen Begriff dazu entwickelt, und so besteht derzeit wirklich die Gefahr, daß dieser Europa-Begriff der Manager dominieren oder gar der einzig existente sein wird. Von seiten der Grünen ist es derzeit offenbar leichter, negative Definitionen für Europa zu geben, also zu sagen, was man nicht will. So haben sich in Italien als Ansätze für Gegenpositionen bisher nur allgemeine Schlagworte entwickelt, wie etwa das Europa der tausend San Marinos, also ein Europa autonomer Kommunen, oder ein Europa transversal arbeitender sozialer Bewegungen etwa auf dem Feld der Atomkraftwerke, wie sich das bei uns als Allianz verschiedener gesellschaftlicher Kräfte ergeben hat.

Hier wäre übrigens auch mein Ansatzpunkt: Es geht vorrangig darum, grenzüberschreitend gemeinsame Kampagnen zu schaffen, die sich dem ebenfalls grenzüberschreitenden Umweltschutz, der ökologischen Gefahr, der Zerstörung der Lebenswelt entgegenstellen. Was mir darüber hinaus ganz, ganz wichtig erscheint, gerade im Hinblick auf das Europa, das nun offenbar zustande kommt: wieder scheint es so, daß es eine große Zentralachse gibt, vor allem zwischen Bonn, Paris und London, und daß es südlich der Alpen auch ein Europa gibt, und das muß man leider auch den mitteleuropäischen Grünen immer wieder erklären. Udo Knapp hat eben wieder den Ost -West-Konflikt angeführt, als Achse seiner Weltanschauung, und das sehen wir als eine typisch deutsche Wertung, und nicht als das europäische Problem an: für uns ist der Ost-West-Konflikt eine abhängige Variable des Nord-Süd -Konflikts. Totz der deutschen Angst, ein künftiger Kriegsschauplatz könnte in ihrem Bereich liegen, sehen wir das Problem nicht zuvörderst in Mitteleuropa, sondern im Mittelmeerraum, vor allem im Nahen Osten.

Vielleicht kommen wir am besten aus den allgemeinen und vor allem den negativen Europa-Bestimmungen heraus, wenn wir uns einmal Themen vornehmen, die man sich als grenzüberschreitend wichtig vorstellen kann. Wie steht es etwa mit der Frage sozialer Konflikte? Die Auseinandersetzung innerhalb der Arbeitswelt, Streiks, Gewerkschaftsbewegung etc. - das waren einst Themen, die die Linke auch international streckenweise geeint hatten. Wie steht es da in Europa, jenem, das nun 1992 entstehen soll sind eurer Meinung nach soziale Konflike europaweit überhaupt führbar?

Udo Knapp: Ehe man die Frage nach der Kampfkraft z.B. der Gewerkschaften stellt, muß man zunächst einmal voransetzen, daß es den Gewerkschaften genauso geht wie allen Linken, daß sie sich nämlich keine Gedanken zu Europa gemacht haben. Aufgewacht sind die erst, als es da vor einigen Wochen eine Richtlinie aus Brüssel gab, die ganz klar das in der Bundesrepublik geltende Mitbestimmungsrecht zur Disposition stellt, also eine Errungenschaft aus hundert Jahren sozialdemokratischer Politik. Das ist eine eindeutige Deregulierung, stärker noch als sie sich der Graf Lambsdorff wünscht. Aber diese Deregulierung ist ein Fakt, auf dem Gebiet des Arbeitsrechts gibt es ein mächtiges Gefälle zwischen den Ländern der EG. Das grundsätzliche Problem, bevor man an die Frage gemeinsamer, grenzüberschreitender Kämpfe und Kampagnen geht, lautet: Wie verhalten wir uns, jetzt als bundesrepublikanische Linke: Zählt nun die internationale Solidarität mit den ausgebeuteten Leichtlohnnäherinnen in Portugal und Griechenland oder stehen uns unsere Stahlarbeiter und verbrieften Rechte näher? Wenn die Gewerkschaften da mal klar sagen würden, was sie wollen, würde sich schnell herausstellen, daß sie neonationalistisch sind.

Unsere Frage ging aber nicht an die Gewerkschaften, sondern an euch als Grüne.

Udo Knapp: Unsere Grüne Politik z.B. fand ich ganz falsch, als da die Auseinandersetzung um Rheinhausen usw. losbrach. Es war von vornherein klar, daß das Werk zugemacht werden wird, und es wird nach der Einführung der marktwirtschaftlichen Gesetze noch mehr von der Stahlindustrie verschwinden. Ich find's hervorragend, daß die Stahlindustrie verschwindet, daß die Kohleproduktion verschwindet und daß die Werften verschwinden. Das sind weder ökologische Produktionen noch ist das zu vereinen mit der künftigen Art der Produktion, wie ich sie mir vorstelle.

Sergio Andreis, bei euch gab's Ähnliches im Stahlwerk Bagnioli.

Sergio Andreis: Ja, aber wir haben - und das tun wir immer denen klarzumachen versucht, daß es uns nicht darum geht, sie auf der Straße stehen zu lassen. Wir sind nicht gegen Chemie, sondern für eine alternative Chemie, wir sind gegen AKWs, bauen aber gleichzeitig genug Alternativen für andere Energiegewinnung auf. Das, was ich vorhin von gemeinsamen Kampagnen gesagt habe, sind soziale Kampagnen, aber nicht die der bisherigen Gewerkschaften - die im übrigen bisher zu unseren stärksten Feinden zählen -, sondern eben europaweite Kampagnen gegen die Abfälle, die Verunreinigung der Flüsse, der Luft, die Zerstörung der Natur. Was wir entwickeln müssen, ist eine neue Art von Konfliktualität, und da sehe ich europaweit schon einige Chancen.

Ist es für euch relativ belanglos, wenn Organisationen wie die CGT in Frankreich, der DGB in der Bundesrepublik, die CGIL in Italien, die bislang die Massen doch irgendwie vertreten haben, in dieser Phase der kapitalistischen Neustrukturierung weiter geschwächt werden oder gar daran zerbrechen?

Sergio Andreis: Aber solche Neustrukturierungsprozesse haben wir in Italien doch schon seit Jahrzehnten erlebt, Fiat ist dafür ein bezeichnendes Beispiel. Das merkwürdige ist nur, daß Fiat ohne weiteres ein paar zehntausend Arbeiter auf die Straße wirft und sowohl die Gewerkschaften wie die Kommunisten gucken zu - nur wenn wir Grüne ein hochgefährliches Giftwerk mit ein paar hundert Arbeitern schließen wollen, schreit die Nation, die vernichten Arbeitsplätze.

Pierre Juquin: Die Frage ist natürlich auch sehr kompliziert, um so mehr, als wir zuerst fragen müssen, wer überhaupt Westeuropa, also die EG, aufbaut, seit das alles begann mit Stahl, Kohle, nun die Banken, die Konzerne. Die Arbeiter müßten das Terrain des Kampfes um ihrer Interessen wählen, selbst wählen, aber können sie das? Die Manager, die Bauherren, die können sich jederzeit treffen, wenn sie etwas besprechen, entscheiden wollen; aber bei den Arbeitern und schon gar bei den Arbeitslosen ist das weitgehend unmöglich. Ich war kürzlich in Brüssel zusammen mit einem Mitglied des Politbüros der dortigen KP.

Während unserer Diskussion stand ein Arbeiter auf und sagte: wenn wir bei Michelin hier ein Problem haben, dann sind innerhalb von zwei Stunden alle Manager versammelt, auch die aus Deutschland und Frankreich. Die zuständigen Gewerkschaftsgremien haben sich noch acht Wochen nach dem Anlaß nicht gesprochen. Also: Wir brauchen sicherlich eine Konvergenz der Gewerkschaften wie der alternativen Bewegungen und speziell der Ökologen, sonst können wir keinen Gegenbegriff zu dem Europa der Konzerne schaffen. Die Gewerkschaften stecken dabei freilich in einer Krise, weil sie sich aus einer vereinfachten marxistischen Lehre entwickelt hat. Marx hat scharfe Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise geübt, und meines Erachtens zu Recht. Aber er hat keine Kritik an den Produktionskräften geleistet, und das ist die große theoretische Lücke im Marxismus. Eine andere Lücke betrifft die Macht, den Staat, die Gewaltausübung. Damit hängen diese Schwächen der traditionellen Träger sozialer Bewegungen zusammen.

Udo Knapp: Ich finde es richtig, auf diese Lücke bei Marx hinzuweisen, Ökologie kommt bei ihm nicht vor, eine Kritik der Produktivkräfte gibt es nicht. Trotzdem erscheint mir Juquins Fragestellung, vorsichtig formuliert, ökonomistisch, weil er sich an der Frage orientiert: Wie kann man die sozialen Interessen bestimmter Gruppen von Arbeitern auf europäischer Ebene gemeinsam vertreten? Das ist mir vom Inhalt her einfach zu wenig. Das sind nicht die Konflikte, an denen sich die künftige Entwicklung Europas oder der Industriegesellschaft entscheiden wird. Die deutschen Grünen bezeichnen das mit dem fürchterlichen Wort „Umbau der Industriegesellschaft“. Da geht es dann nicht um 35- oder 30 -Stunden-Woche, es geht um die Frage, wie können Menschen in Europa leben, ohne daß die Arbeit im Mittelpunkt ihrer Existenz steht.

Fragen wir etwas, das ohne alle Debatten kommen wird: das Niederlegen der Grenzpfähle zwischen den zwölf EG-Staaten; das wird meist damit begründet, daß Europa nur so konkurrenzfähig sei zu Kolossen wie den USA und Japan. Nun gibt es aber Leute, denen gerade die totale Grenzöffnung Angst macht, weil Grenzen für sie auch eine Schutzfunktion haben können.

Udo Knapp: Ich bin gegen jede Grenze, ich hasse Grenzpolizisten. Denn das Problem besteht auf der materiellen Seite, und das kann man auf dem Gebiet der Ökologie gut diskutieren. Nimm das Reinheitsgebot für Bier oder irgendeine andere ökologische Norm. Die sind in der Bundesrepublik meist höher als in Frankreich oder in Italien. Nun sind in der Bundesrepublik nach Umfragen auch 80 Prozent der Menschen bereit, etwas zu zahlen für eine bessere Umwelt. Und da kann ich nicht einfach hingehen und sagen, nun reißen wir die Grenzen ein und und gehen auf den Standard von Frankreich zurück, damit wir dafür das große Europa kriegen. Ich habe da also große Probleme - ich bin da eher für einen ökologischen Egoismus, der sagt, die Standards in Europa müssen die höchstmöglichen sein, sonst kann ich keinen Fortschritt für uns darin sehen. Natürlich können die anderen nun sagen, seht mal wieder diese Deutschen, früher war es das deutsche Wesen, an dem die Welt genesen sollte, nun sind es die ökologischen Standards. Auf diesem Gebiet bin ich mit Mitterrands Begriff der „geteilten Entwicklungen“ einverstanden: Wenn die Engländer weiterhin die größten Umweltschweine sein wollen, bitte, aber ich seh das für uns nicht ein.

Also doch irgendwie Grenzen als Schutz.

Udo Knapp: Das ist zweifellos ein Zielkonflikt.

Pierre Juquin: Die Frage ist, ob wir wirklich zu einer europäischen Normierung auf höchstem Niveau kommen können. Dafür bin ich, aber nur unter der Bedingung, daß es geschieht. Ich finde, auf ökologischem Gebiet sollten die anderen durchaus dem guten deutschen Beispiel folgen. Auch ein neues Arbeitsrecht ist notwendig, doch auch das ist äußerst schwierig, weil die Lage sehr komplex ist. Wir müssen da zuerst wohl einerseits Colloquien organisieren, miteinander sprechen, die Fragen sehr genau studieren, andererseits Konflikte organisieren, Initiativen ergreifen auf diesen Terrains, zu begrenzten Fragenkomplexen gesamteuropäische Konfliktstrategien entwickeln.

Sergio Andreis: Also ich denke, dieses Europa ohne Grenzen ist sowieso eine ziemliche Mystifikation. Die Leute, die da heute so laut drüber reden, unser Ministerpräsident De Mita, euer Kanzler Kohl, Mitterrand, die reden weniger über Europa als über die Wirtschaftsgemeinschaft, und das ist etwas ganz anderes, und zweitens reden sie über ein Europa, das tatsächlich neue Grenzen aufbaut gegenüber allen nicht zur EG gehörenden Ländern, massivere Grenzen als bisher. Und das Argument der Konkurrenzfähigkeit ist für mich sowieso absurd. Wir brauchen keine Konkurrenz zu den USA oder Japan, wir brauchen Länder, oder besser noch Völker, die kooperationsfähig sind, denn uns allen bleibt nur noch sehr wenig Zeit.

Es ist das erste Mal, daß wir aus grünem Mund eine Andeutung von Alternativmodell hören - Europa nicht aus Konkurrenzgründen, sondern als Hoffnung auf Kooperation.

Udo Knapp: Ich finde, da verschiebt sich die Diskussion weg von der Beantwortung konkreter Fragen. Denn den Binnenmarkt wird es ab 1992 geben, es wird auch dieses für alle erschreckende Maß an Normalität geben, im besten Falle das Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Ich bin für den Binnenmarkt, das ist überhaupt keine Frage für mich, weil ich denke, das hat auch Vorteile.

Wir haben bisher noch nicht gehört, warum man nun die Grenzen innerhalb Europas so begeistert niederreißt, aber sie nach außen eher undurchlässiger macht.

Udo Knapp: Das ist doch ganz einfach. Wir haben z.B. in der Bundesrepublik das weitestgehende Asylrecht, das es überhaupt gibt. Wer deutsche Grenzen erreicht, darf überhaupt nicht abgewiesen werden. Da gibt es seit zwanzig Jahren die Tendenz, dieses Asylrecht kaputtzumachen, und bisher hat sich nicht die Tendenz durchgesetzt, es aufzuweichen. Nun hat es immer die Trennung von Wirtschaftsflüchtlingen und politischen Flüchtlingen gegeben, doch das Problem wird in der nächsten Zeit noch größer werden. Wenn die Mobilität in der Welt so zunimmt, werden Leute in großen Massen aus Afrika, zu recht, weil sie eine Lebenschance suchen, dorthin gehen, wo sie sie angeboten kriegen. Und das ist nun mal Europa. Und da muß man sich ernsthaft die Frage stellen, wie man sich dann verhält.

Pierre Juquin: Das hängt auch mit der Demographie zusammen.

Udo Knapp: Ja gut, da muß man also intelligente Lösungen suchen, und die können bestimmt nicht, ich sage das mal provokant, offene Grenzen sein. Also, wenn wir tatsächlich eine ökologische Zukunft wollen, können wir die Grenzen eben nicht aufmachen.

Pierre Juquin: Die Römer haben einst einen Limes errichtet.

Sergio Andreis: Vielleicht werden es nun die Deutschen tun.

Udo Knapp: Nun mal ernsthaft...

Sergio Andreis: Nein, das ist kein Witz, Udo. Wir sehen wirklich das Risiko, statt des römischen nun ein deutsches Reich aufzubauen. Ganz einfach deswegen, weil ihr wirklich etwas zu verlieren habt. Ihr habt den Sozialstaat zu verlieren, den sonst in der EG niemand hat, euer Gesundheitssystem funktioniert, das Transportsystem ist in Ordnung, die Post kommt regelmäßig. Die Mitterrandsche These der verschiedenen Geschwindigkeiten bedeutet im Grunde eine Sicherung des Status quo eurer Privilegien, doch gleichzeitig zahlen andere Länder wie z.B. Italien im Agrarsektor nun schon zum wiederholten Male für die Bedürfnisse und Entschlüsse des Nordens drauf.

Womit wir wieder bei der Frage wären, ob man denn unter diesen Umständen gemeinsame Kampagnen, wie sie Sergio Andreis meint, überhaupt jemals in Gang bringen können.

Udo Knapp: Also, ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen. Warum sollten sie in Deutschland auf einmal anfangen, gegen Brüssel zu demonstrieren? Außerdem ist Brüssel weit weg, irgendwie muß man da ja hin, um diese Demonstrationen zu organisieren. Was man aber kann, ist ein politisches Defizit festzustellen. Und das ist der Punkt, den wir hier noch überhaupt nicht angesprochen haben. Wenn Europa kommt, dann muß natürlich von unserer Seite dieser Satz von der demokratischen Struktur Europas eingelöst werden. Da müßten wir dann eine gemeinsame Kampagne machen, um klarzulegen, daß dieses Europa der Minister ohne jede demokratische Legitimation ist.

Pierre Juquin: Das eigentlich Europäische wäre nach dir also die Demokratie. Das ist zum Teil richtig, denn wie Europa jetzt aufgebaut wird, das ist überhaupt nicht demokratisch. Das gewählte Parlament hat keine Macht, und die Macht ist in ungewählten Händen.

Kampf um Demokratie als gemeinsame grüne Europa-Idee?

Sergio Andreis: Also damit kann ich nun wirklich nichts anfangen.

Udo Knapp: Ich weiß gar nicht, was ihr habt, ihr habt schon was gegen das Wort Demokratie, das kommt euch schon schwer über die Lippen.

Sergio Andreis: Nein, darum geht's wirklich nicht, jeder von uns kämpft für Demokratie. Aber während wir hier über Demokratie reden, entscheiden die anderen...

Udo Knapp: Ja, was sollen wir denn tun?

Versuchen wir die mangelnden Alternativen von der anderen Seite her anzugehen: Habt ihr denn das Gefühl, daß außer einigen Konzernchefs unsere entscheidungsbefugten Minister und Politiker eine wirklich durchdachte Vorstellung von Europa haben? Könnte eure Orientierungslosigkeit nicht mit der Konzeptlosigkeit der Regierenden zusammenhängen?

Pierre Juquin: Eine sehr gute Frage. Natürlich haben auch die verschiedenen Thatchers, Kohls, Mitterrands keine klaren Vorstellungen, was 1992 wirklich geschehen wird, und sie haben mindestens so unterschiedliche Prioritäten wie wir. Der Unterschied zu uns: Sie tun etwas, und sie verfügen über wirkliche Macht. Dazu vertreten sie natürlich vor allem wirtschaftliche Interessen und auch politische, sie wollen, daß es so weitergeht für sie wie bisher, von der Restrukturierung bis zur Militärpolitik.

Udo Knapp, hast du den Eindruck, die Politiker wüßten, was auf uns und sie zukommt?

Udo Knapp: Also, ich finde, so groß ist der Unterschied zwischen dem, was wir hier sagen und dem, was die anderen Politiker sagen, doch gar nicht (Stimmt. d.S.). Es gibt eine inhaltliche Gemeinsamkeit und ein gemeinsames Bewußtsein, das auf irgendeine Weise das Zeitalter der Nationalstaaten an eine Grenze gelangt ist.

Du meinst also, eine Idee Europas ist vorhanden.

Sergio Andreis: Ich sehe das anders. Ich muß hier ausnahmsweise mal unserem Außenminister Andreotti recht geben. Der hat vor ein paar Wochen gesagt, Europa 1992 ist eine wunderbare Illusion; und sie wird es vielleicht auch bleiben.