Sibirische Perestroika

■ Gorbatschow antwortet in Sibirien auf Fragen kritischer Bürger und verteidigt Perestroika

(tass/dpa/taz) - Effektvoll hat sich Michail Gorbatschow am Montag aus dem Urlaub zurückgemeldet. Der Chef nimmt die Fäden der Politik wieder in die Hand. 25 von 30 Minuten der populären Nachrichtensendung „Wremja“ gehörten ihm. Und indem er sich den kritischen Fragen der BewohnerInnen der ostsibirischen Stadt Krasnojarsk vor Ort stellte, ließ er keinen Zweifel daran, daß der Kurs der Perestroika weitergeführt wird.

„Wir haben keine Wurst“ oder „Es gibt nichts, nicht mal heißes Wasser“, hielten ihm einige entgegen und spielten auf die Situation ihrer Region an, in der wohl Mittel für Industrieanlagen bereitgestellt wurden, die für die Menschen dazu gehörende Infrastruktur aber sträflich vernachlässigt blieb. Gorbatschow gab zu, daß die „soziale Entwicklung“ hinter der ökonomischen Erschließung der Region zurückbleibe. „Schuld daran sind das Zentrum, die Planungsorgane und die Machtorgane der Region“, die „nicht richtig Alarm geschlagen haben.“ Sie beeilten sich zwar, Kapazitäten in Betrieb zu nehmen, darüber zu berichten und Rechenschaft abzulegen. „Was ist aber mit diesen Kapazitäten ohne Menschen anzufangen?“, fragte er in die Runde.

Bei so viel Problembewußtsein hätte es eigentlich Beifall von allen Seiten geben müssen, doch gab es auch Stimmen, die öffentlich die Chancen der Reformpolitik anzweifelten. Gorbatschow rief die BürgerInnen dazu auf, Geduld aufzubringen und zu begreifen, daß die Politik der Umgestaltung „kein Spaziergang auf dem Bürgersteig“ ist. Viele versuchten zu bremsen, weil die Perestroika „die seit Jahrzehnten bestehenden Vorstellungen umstößt.“ „Die Umgestaltung - das ist noch ein nicht erschlossener Weg. Sie ist nicht einfach, erfordert enorme Bemühungen, Ausdauer, Zeit und Verstand.“

Gorbatschow wird sich über eine Woche in der Region aufhalten und voraussichtlich eine Grundsatzrede zur Perestroika halten.

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