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Der Richter und der Überzeugungstäter

Im Memminger §218-Prozeß bekennt sich der angeklagte Arzt zu den illegalen Abtreibungen / Richter und Staatsanwälte kennen sich mit der Rechtslage nicht aus / Statt dessen interessieren sie sich für Orgasmusstörungen und Frigidität  ■  Von Gunhild Schöller

Memmingen (taz) - „Abtreibung war also eine Spezialität von Ihnen?“ Der Vorsitzende Richter Albert Barner zieht verkrampft seine Mundwinkel hoch. Damit eröffnet er die Vernehmung des Arztes Horst Theissen „zur Sache“. Illegale Abtreibungen in 156 Fällen werden dem Memminger Arzt zur Last gelegt. Richter Barner betritt damit ein Gebiet des Strafrechts, das neu ist für ihn. An der 1.Strafkammer des Landgerichts Memmingen verhandelt er sonst gegen Diebe, Betrüger, vielleicht einmal einen Messerstecher. Jetzt aber sitzt ihm ein echter Gesinnungstäter gegenüber.

„Ich habe mich abgesetzt von der bayerischen Vorschrift, wonach nur stationäre Abbrüche erlaubt sind“, Theissen gibt das schlicht und ruhig zu. Als Arzt sei er verpflichtet, den Eingriff zu wählen, der die Patientin körperlich und psychisch am wenigsten belaste. Im Falle einer Abtreibung sei dies ein ambulanter Eingriff nach der Absaugmethode. „Ich bin verpflichtet“, betont er sein Berufsethos immer wieder, „meinen Patientinnen einen Rückhalt zu bieten. Ich wollte ihnen nicht zumuten, daß sie nach München fahren müssen wegen eines Abbruchs.“ Auch vor den neugierigen Fragen der Nachbarn und Verwandten habe er sie schützen wollen, über einen Klinikaufenthalt außerhalb Memmingens werde doch vernehmlich getuschelt.

Bis Ende 1980 sei sein Tun legal gewesen, behauptet Theissen plötzlich. Bis dahin habe er Abbrüche bei der Krankenkasse abrechnen können. „Dann wurde in Bayern das Gesetz geändert. Aber ich konnte nicht einsehen, daß das, was vorher Recht war, plötzlich zu Unrecht wird.“ „Ja wie? Das ist doch Bundesgesetz seit '76?“ Richter Barner ist verwirrt. Als Theissen sagt, er könne seine Auffasung mit Schreiben der Krankenkassen belegen, blicken auch die beiden jungen Staatsanwälte sich fragend an. Mit dem Charme zweier verklemmter Abiturienten in einer zu kleinen Schulbank sitzen sie da und wissen auch nicht weiter. Tatsächlich wurden Ende 1980 in Bayern Ausführungsbestimmungen zum §218 erlassen, die den ambulanten Abbruch nicht vorsehen - aber das übersteigt die Sachkenntnis aller Verfahrensbeteiligter.

Individuell auf die Frauen

eingehen

„Wenn ich nach einem langen, intensiven Gespräch nachempfinden konnte, warum die Patientin den Abbruch will, habe ich ihn gemacht“, bekennt der Arzt ohne Umschweife. Er folgte seinem Credo, individuell auf die Situation der Frau einzugehen - unabhängig davon, was andere meinten oder das Gesetz vorschrieb. „Wie haben Sie so ein Gespräch denn geführt? Haben Sie z.B. eine materielle Notlage als gegeben hingenommen oder der Frau auch gesagt, daß die Zukunft gar nicht so schwarz aussieht?“ Richter Barner versucht, Regeln und Richtlinien zu finden, nach denen der Arzt mit diesen Patientinnen umzugehen habe. „Ich habe nicht versucht, zu objektivieren“, enttäuscht ihn Theissen. „Es ist unzulässig, ihre schwierige Situation auf eine materielle Notlage zu beschränken. Auch hat mich die Katalogisierung in die drei Indikationen immer gestört. Wenn man sich ernsthaft mit einer Patientin befaßt, ist das nicht mehr möglich.“

Eine Gutachterin, vom Gericht bestellt, bestätigt später diese Haltung von Theissen im wesentlichen. Prof. Marianne Mall-Haefeli ist Leiterin eines Beratungszentrums in der Schweiz, wo seit 30 Jahren ein Indikationsmodell praktiziert wird. Sie berichtet auch von den Erkenntnissen, die viele Frauen durch eine Abtreibung gewinnen: daß sie sexuelle und psychische Probleme hätten und sie häufig den falschen Partner wählten - 30 Prozent der Frauen verließen den Mann nach dem Abbruch. „Ja, warum verlassen die Frauen den Mann? Wegen Frigidität?“ Richter Barner will nicht passen und operiert scheinbar sachlich mit den Begriffen „Orgasmusstörung“, „Vaginismus“ und „reaktive Depression“. Von der Richterbank, von Männern in hochgeschlossenen schwarzen Roben gesprochen, wirkt das absurd und beleidigend. Zuschauerinnen auf den Bänken hinten im Saal pfeifen und buhen. Barner droht ihnen nicht - wie sonst sofort mit Rausschmiß. Offensichtlich weiß er nicht, was er sich noch leisten kann, ohne ins Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik zu geraten. Eine repräsentative Umfrage der Wickert -Institute am Wochenende hatte ergeben, daß 79 Prozent aller Wahlberechtigten es „nicht richtig“ finden, wie dieser Abtreibungsprozeß geführt wird. Die Befragten meinten, das Verfahren passe nicht in eine liberale Gesellschaft, mit der Verlesung der vollen Namen der Frauen habe man sie wie im Mittelalter an den Pranger gestellt, die ärztliche Schweigepflicht werde durch Beschlagnahme der Karteikarten mit Füßen getreten. „Wir haben diesen Prozeß nicht gewünscht“, entfährt es Richter Barner, nachdem die Proteste aus dem Zuschauerraum verstummt sind, „wir haben ihn eben.“ Die Gutachterin ist schon nervös, sie darf den Abendzug in die Schweiz nicht verpassen. Für ein Schlußwort bleibt deshalb keine Zeit. Aber da ist ihr doch noch etwas wichtig, das möchte sie noch loswerden: „Für mich war es ein Schock, als ich mitbekam, daß Abtreibung zu einem Politikum geworden ist“, sagt sie mit einem aufrichtigen Lächeln. „Es ist ausschließlich die individuelle Entscheidung einer Frau. Und sonst gar nichts.“

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