Die Kinder vom Arbat

■ Anatolij Rybakow schrieb schon in der Chruschtschow-Ära seinen großen Roman über die Geschichte einer Gruppe von Freunden im Moskauer Stadtteil Arbat während der Stalin-Zeit. „Die Kinder vom Arbat“ konnte erst 1987 in Moskau veröffentlicht werden. Die deutsche Ausgabe ist soeben erschienen.

Wie kam Stalin in Ihr Buch?

Anatolij Rybakow: Vor vielen Jahren begann ich mit der Arbeit an Die Kinder vom Arbat. Ich wollte einen Roman über die 30er Jahre schreiben. Bald stellte ich fest, daß ich über diese Zeit nicht schreiben konnte, ohne Stalin zu erwähnen. Und so mußte ich Stalin mit in den Roman hineinnehmen, und je weiter ich beim Schreiben kam, desto größer wurde die Rolle Stalins darin. Immer mehr verschob sich das Zentrum der Aufmerksamkeit auf ihn. So mußte ich auch die Hauptfigur, Sascha Pankratow, ändern.

Das ist eine autobiographische Figur?

Sicher, ich habe Sascha viel von meiner Lebensgeschichte gegeben: den Arbat, mein Gymnasium, meine Mutter, meinen Vater, die Verbannung in Sibirien. Allerdings wurde ich 1933, Sascha dagegen wurde 1934 verhaftet. Meinen Charakter habe ich ihm nicht gegeben. Ich brauchte eine Gegenfigur zu Stalin, und das mußte Sascha sein: Der eine repräsentiert die Erniedrigung des Menschen, der andere seine Wiederaufrichtung. Sascha ist darum viel besser als ich es bin. Er mußte einen Kontrast zum negativen Helden, zu dessen Philosophie und dessen historischem Gewicht bilden. Sascha mußte eine verführerische Figur sein, und tatsächlich haben ihn die Leser ja von Anfang an geliebt.

Sascha kennt Lenins Testament, in dem es kritische Äußerungen zu Stalin gibt, und redet offen darüber. War das 1934 möglich?

Sicher, dieses Dokument kannten nicht alle, aber viele kannten es, ich zum Beispiel. Im Gegensatz zur allgemein verbreiteten Auffassung kursierte in den Jahren 1933/34 eine Menge klandestiner Literatur. Lenins Testament gehörte dazu. Wenn du erwischt wurdest mit einer Kopie des Testaments, bekamst du zehn Jahe Haft! Nur Stalin konnte sich erlauben, daraus zu zitieren. Einmal sagte er: „Lenin hat von mir behauptet, ich sei grob. Er hatte recht. Ich bin grob mit den Feinden.“ Lenin hatte geschrieben, Stalin sei grob mit den Genossen, und dann gab es da noch ganz andere Sachen in seinem Testament.

Wie haben Sie an der Figur Stalins gearbeitet?

Ich habe alles gelesen und wieder gelesen, was von Stalin erschienen ist. Ich habe alle Zeitungen dieser Jahre gelesen, die Parteitagsprotokolle, die Prozeßakten. Ich habe mit Leuten gesprochen, die Stalin kannten. Dann habe ich mich natürlich auf mein Gedächtnis gestützt, denn ich war schließlich auch ein Zeuge dieser Jahre. Und ich habe mein Metier erprobt: Ich bin in Stalins Haut geschlüpft. Als ich über Stalin schrieb, habe ich gedacht wie Stalin, wurde Stalin. Der Leser weiß und fühlt, daß es in dem ganzen Roman nicht ein einziges Faktum gibt, das nicht der Realität entspricht.

Aber es fehlt doch nicht an Erfundenem?

Diese kleinen Sachen, die ich „erfunden“ habe, müssen sich meines Erachtens, angesichts der Gegebenheiten, so abgespielt haben. Zum Beispiel Stalins Geliebte in Baku. Aber kein Dante, Tolstoi oder Balzac hätte sich diese vom Leben „erfundenen“ Geschichten ausdenken können. Zum Beispiel die Episode, in der Stalin seinem Zahnarzt für ein goldenes Gebiß ein bißchen Obst und Wein anbietet, diese Episode hat sich zugetragen. Ich habe selbst mit dem Zahnarzt gesprochen. Nur hat sich die Begebenheit erst nach dem Krieg abgespielt, während ich sie ins Jahr 1934 verlegt habe und eine Begegnung dieses Zahnarztes mit Kirow hinzugefügt habe. Ich nehme also eine wahre Begebenheit und führe sie so in den Roman ein, wie sie mir für die Entwicklung und den Charakter der Stalin-Figur nützlich erscheint.

Auch was die Beziehungen Stalins zu seinem Vater angeht?

Hier habe ich mich auf die Tradition gestützt, die besagt, daß Stalins Vater ein Trinker war und von seinem Sohn nicht geliebt wurde. Stalins Lieblingsschauspieler war Charlie Chaplin. Er ließ sich die Filme immer wieder vorführen. Ich glaube, Stalin sah in Chaplin seinen eigenen Vater. Chaplin weckte in ihm die Erinnerung an jene Beleidigungen und Erniedrigungen, die er als kleiner Seminarist während seiner Jugend hatte erdulden müssen. Stalin war seiner ganzen Familie gegenüber sehr hart; er ging noch nicht einmal zur Beerdigung seiner Mutter.

Ist Stalins Sohn nicht in einem Nazi-Lager gestorben?

Am Ende von Das Jahr 35 und andere Jahre schreibe ich, daß Stalins Sohn Jakow 1941 von den Nazis gefangengenommen wurde und „unter nicht geklärten Umständen starb“. Ich bin von der offiziellen Version nicht überzeugt. Warum hätte Hitler den Sohn Stalins, eine so kostbare Geisel, umbringen sollen? Hitler hat keinen umgebracht, der einen so hohen Wert auf dem internationalen Markt hatte... Nein, nein, der Tod Jakows ist ein Geheimnis.

1934 scheint, wenn man Ihrem Buch glauben kann, Stalins Philosophie der Macht schon voll entwickelt gewesen zu sein.

Sicher. Stalins ganze Philosophie basiert auf der Idee der Macht. Die Theorie der Macht nimmt einen entscheidenden Platz im Bolschewismus ein. Für Lenin aber war die Macht ein Mittel, um seine Ideale zu erreichen. Für Stalin war sie das Ziel selbst. Und das entscheidende Mittel, um die Macht zu erhalten, war der Terror. Für ihn war der stärkste Instinkt des Menschen die Angst. Er mußte immer jemanden schlagen, damit die anderen Angst vor ihm haben. Und er mußte immer durch jemand anderen schlagen. Die Leute glaubten, die Repression ginge von anderen aus, und Stalin liquidierte nicht umsonst systematisch seine engsten Getreuen, nachdem sie auf seinen Befehl hin Millionen von Menschen umgebracht hatten: Jagoda, Ezow. Die Angst und ein riesiger Propagandaapparat, das sind Stalins Mittel.

Er war ein Meister darin, Vorteile aus seinen Niederlagen zu ziehen. Im Krieg hat keiner so viele Fehler gemacht wie er. In der Landwirtschaft hatte seine Politik katastrophale Folgen, die heute noch nachwirken. Und doch kam Stalin aus diesen Niederlagen in den Augen der Massen immer wieder als Sieger hervor.

Hat Ihre persönliche Haltung zu Stalin sich im Laufe der Jahre geändert?

Heute sind auch die, die ihm Weihrauchkerzen angezündet und Lobeshymnen gesungen haben, auf der Seite der Opposition. Auch die, die hervorragend gelebt haben, privilegiert waren, erklären heute, sie hätten sehr leiden müssen. Dunajewski, Autor superpatriotischer Preisgesänge, stellt sich heute als Opfer des Stalinismus dar. Auch Michail Romm, Regisseur einiger Filme, in denen Stalin wie ein Gott auftritt, hat leiden müssen und so weiter. Ich wurde als Junge schon ins Gefängnis gesteckt, kam drei Jahre ins sibirische Exil, ich hatte überhaupt keine Gelegenheit, zu einem Anbeter Stalins zu werden. Ich muß allerdings zugeben, daß in bestimmten Augenblicken meines Lebens auch ich von dieser kollektiven Hypnose angesteckt worden war. Im Krieg, wenn man jahrelang Seite an Seite mit Leuten kämpft, die deswegen angreifen, weil Stalin es ihnen befohlen hat, und mit seinem Namen auf den Lippen sterben, dann kann man sich nicht mehr um solche Feinheiten kümmern und will auch nicht um jeden Preis als Renegat dastehen. Der Krieg schafft Solidarität. Ich war im Krieg auch nicht Journalist wie andere Schriftsteller, sondern einfacher Frontsoldat. Wenn ich es gewagt hätte, auch nur ein einziges Wort gegen Stalin zu sagen, wäre ich sofort erschossen worden. Aber trotzdem: Ich wußte von Jugend an, was ich von Stalin zu halten hatte. Ich habe Bucharin gesehen, ich habe Trotzki gehört, große Redner, die mir diesem abscheulichen Mittelmaß Stalins weit überlegen schienen. Ich habe, als er starb, keine Träne vergossen.

Was war Ihre Reaktion auf die berühmte Chruschtschow-Rede, in der zum ersten Mal die Wahrheit über die Repressionen in der Stalin-Zeit gesagt wurde?

1956 war ich schon 45 Jahre alt, hatte ein ganzes Leben hinter mir. Ich wußte alles, viel mehr als das, was in der Chruschtschow-Rede gesagt worden war. Neu, ein wahrer Schock, war für mich die Tatsache, daß man endlich darüber reden konnte. Dafür liebte ich Chruschtschow: Als er im Oktober 1964 wieder nach Hause kam, seinen Mantel an den Haken hing und sagte: „Jetzt haben sie mich von allen meinen Ämtern abgesetzt. Aber das ist mein größter Sieg: Sie haben das machen können durch eine einfache Abstimmung.“

Gab es eine wirkliche Alternative zu Stalin?

Da fällt die Antwort schwer. Rußland hat keine demokratischen Traditionen. Das ist ein sehr wichtiger Faktor. Mit der Oktoberrevolution hat es eine Reihe sozio -ökonomischer Etappen übersprungen, die alle anderen Gesellschaften durchgemacht haben. Aber trotz allem Revolution, Bürgerkrieg - verstand Lenin, wo die Gefahr lag: Stalin. Man muß wieder auf sein Testament zurückkommen, in dem er alle Fehler seiner möglichen Nachfolger untersuchte. Nur Stalin, der Parteisekretär war, sollte Lenin zufolge aus seiner Stellung entlassen werden. Trotzki sollte weiter Armeechef, Sinowjew weiter Komintern-Präsident bleiben. Stalin hatte verstanden, daß in unserem Einparteiensystem der der Boss ist, der den Parteiapparat in der Hand hat. Er bewies das sofort, als er den von Lenin eingeschlagenen Weg der wirtschaftlichen Entwicklung stoppte.

Die NEP, die Neue Ökonomische Politik?

Sehen Sie, ich kann mich noch gut daran erinnern, wie wir 1921 für 50 Gramm Brot, die für mich, einen elfjährigen Jungen, für meine Mutter und meine Schwester ausreichen mußten, Schlange standen; und ich erinnere mich an 1927, als es in Rußland wirklich von allem mehr als genug gab. „Lernt, Handel zu treiben“, sagte Lenin. Er hatte verstanden, daß man mit Zwangsmethoden gar nichts erreicht. Stalin dagegen ersetzte die ökonomischen Methoden durch die von Zwang und Gewalt, und das war eine Katastrophe.

Mußte man nicht diese Methoden anwenden für die Industrialisierung des Landes?

Eine riesige Propagandalüge. Systematisch zu lügen war Stalins natürliches Element. Sicher, es sind einige Fabriken gebaut worden, aber zu welchem Preis? Die Vernichtung der Landwirtschaft, der Verlust von zig Millionen Menschen. Stalin hat den normalen Prozeß der Entwicklung des Landes aufgehalten. Innerhalb von fünf Jahren waren wir wieder auf Vorkriegsniveau gewesen. Das war ja nicht gerade gut gewesen. Wir produzierten Stahl, exportieren Weizen, die industrielle Entwicklung ging schnell voran. Vergleichen wir Rußland und Finnland. Finnland war ein Teil Rußlands, arm, mit unfruchtbarem Boden; es hat Konflikte jeder Art durchgemacht. Sehen Sie es sich heute an, vergleichen Sie das Lebensniveau dort mit dem in der Sowjetunion. Trotzdem, Stalins Hauptverbrechen ist ein anderes, ein psychologisches.

Welches?

Stalin hat das psychische Gleichgewicht des Landes und jedes einzelnen zerstört. Durch die Angst. Wenn man neben dir einen Unschuldigen umbringt und du schweigst, hörst du auf, ein Mensch zu sein. Wenn ein einziger für alle denkt, hören alle auf zu denken. Man weiß gar nicht mehr, was es heißt, frei zu denken. Und wenn man nicht weiß, was frei denken heißt, dann kann man auch nicht frei produzieren. Man hat Angst zu Hause, man hat Angst am Arbeitsplatz, man will keine Verantwortung übernehmen. Solange wir die Menschen nicht von den Ketten der Angst befreien, werden wir auch ökonomisch nichts auf die Beine bringen.

Wie könnte man ein neues psychisches Gleichgewicht herstellen?

Sicher nicht mit den Methoden, die heute von vielen gepredigt werden, nicht durch Denunziation und Bestrafung der Schuldigen.

Welcher Schuldigen?

Wir sind alle schuldig. Ich sage alle, weil es egal ist, ob man wußte oder nicht wissen wollte. Glauben Sie keinem, der Ihnen das Gegenteil sagt. Für Stalin und für das, was geschehen ist, sind wir alle verantwortlich. Wir haben alle „Hoch lebe Stalin“ geschrien, und wir haben alle „Kreuziget ihn“ geschrien. Das ganze Volk muß diese Schuld auf sich nehmen. Heute werden die Untersuchungsrichter vor Gericht gezerrt, die summarisch Millionen Unschuldiger verurteilt haben, morgen werden es die sein, die Falschaussagen gemacht haben, übermorgen die, die für die Erschießung Bucharins gestimmt haben. Wir müßten aber sagen: Wir sind schuld, wir alle, das Volk, die Partei. Jeder sollte bereuen, öffentlich oder doch wenigstens vor sich selbst. Ja, ja ich war ein Schwein, ein Gangster mit einer Sklavenseele. Wir müssen uns moralisch reinigen. Schluß mit den alten Kategorien: „Unterdrücken“, „Liquidieren“. Wir brauchen neue ethische Kategorien: „Reue“, „Mitleid“. Und wir müssen damit anfangen, in anderen Begriffen zu denken und zu sprechen, in einfachen menschlichen Begriffen.

Für die italienische Zeitschrift 'L'Espresso‘ unterhielt sich Giovanni Buttafava mit dem Autor.

Anatolij Rybakow: Die Kinder vom Arbat. Aus dem Russischen von Juri Elperin. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1988. 761 Seiten, 45 Mark