Perest-Rockika im Knastnost

Die Leningrader Rock-Theater-Gruppe „AVIA“ macht sich über die (Ver)Anstalt(ung)sdisziplin lustig / Ort ihres Auftritts: ein Hamburger Knast / Rock, Punk, New Wave, Revolutionskunst und Kurt Weill im kreativen Chaos vereint  ■  Aus Santa Fu Ute Scheub

Noch bevor die erlesene Zuhörerschaft Platz genommen hat, hämmert ihr eine blecherne Stimme aus der Lautsprecheranlage „Verhaltensmaßregeln“ ein: „Die Besucher begeben sich selbständig zum Veranstaltungsort, wobei jede Gruppe nicht mehr als drei Personen umfassen darf. Die Besucher haben das Recht, der Veranstaltung von Anfang bis Ende beizuwohnen, sofern sie die Verhaltensregeln einhalten. Im Falle von Verständigungsschwierigkeiten haben die Besucher das Recht, sich an die verantwortliche Person zu wenden. Zu diesem Zwecke können sie zwei Vertreter delegieren, die in geheimen und direkten Wahlen benannt werden.“ Na bitte, Genossinnen und Genossen: selbst ins Rockveranstaltungswesen haben die neuen sowjetischen Prinzipien Einzug gehalten. Gorbatschow on the Rock.

Und nun setzt AVIA, 20köpfige Rock-Tanz-Theater-Gruppe aus Leningrad, alles daran, diese Prinzipien ins kapitalistische Ausland zu exportieren. Zu mehreren Auftritten am kommenden Wochenende im Rahmen des „Hamburger Rockspektakels“ engagiert, hat AVIA auf Einladung einer Kulturinitiative der Gefangenen zuallererst Hamburgs bekannteste Haftanstalt heimgesucht. Obwohl die Übersetzerin nicht immer bereit steht, haben die Knackis es jedoch nicht nötig, Delegationen nach vorne zu schicken. Autoritäre Disziplin und reformierte Disziplin - das ist nicht nur in Hamburgs Partnerstadt Leningrad Thema, das ist auch hier wohlvertraut. Im Falle von Verständigungsschwierigkeiten haben die Gefangenen das Recht, sich an den Anstaltsleiter zu wenden . . .

„Hurra!“ Und schon erteilt ein Herr, ganz in Weiß, mit schwarzem Hemd und spiegelndem Glatzkopf, neue Anweisungen durch ein Megaphon. „Linke Reihe: hurra!“ Jawoll! „Rechte Reihe: hurraa!“ Geradezu prächtig, Genossen. Ein anderer Herr, spiegelverkehrt in Schwarz, mit weißem Hemd und bleichem Drakulagesicht unter schwarzen Haaren, erklimmt derweil das rote Rednerpult. Die erhobenen Hände zittern von der Kraft der Anstrengung, den Massen die Wahrheit näherzubringen. Der Schlagzeuger mit blondiertem Punker -Schweif drischt auf sein Instrument ein, das Keyboard dröhnt los, der Bassist hämmert, drei SaxophonspielerInnen und ein Trompeter drehen sich ruckartig im Takt.

Der weiße Glatzkopf und sein schwarzer Gegenspieler zeigen tänzelnd dem Publikum Faust und Muskeln. Die Choreographie macht den letzten Unwissenden deutlich, daß „brejkdensing“, dieser Kult der Maschinenmenschen und der Proletarierkraft, aus der Sowjetunion stammt, einige Minuten später wälzt sich der schwarze Diabolo in tollem Krampf und fällt, Hiiilfe, von der Bühne. Bis eine schwarze Dame mit blonder Mähne, womöglich die Revolution persönlich, mit roten Fähnchen die Szene abwinkt.

Weißschwarzrot. Der sonst so steril wirkende Kirchenraum von Santa Fu sieht heute aus wie die von AVIA an die Knackis verschenkten bunten Pappschachteln mit diesen so schrecklich stinkenden Papirossi-Zigaretten. An den Wänden Plakate, auf der Bühne ein riesiges schwarzes Transparent mit kyrillischen Buchstaben: „AVIA für alle“, AVIA ist allerdings erst seit Gorbatschows Machtantritt für alle da. Vor 1986 mußten sich ihre Mitglieder in Leningrader Kellern herumdrücken, heute aber gehört die Gruppe zu den populärsten in der Sowjetunion. Auch die 'Komsomolskaja Prawda‘ singt Loblieder: „Die Traditionen der Revolutionskunst der zwanziger Jahre sind eng verbunden mit der ironischen Ästhetik der zeitgenössischen 'New Wave‘, und die Synthese daraus ergibt ein verblüffendes Resultat. Ja, das ist sowjetischer Rock, den man mit nichts verwechseln wird.“ Stimmt. Spielerisch flippt die Musik zwischen Rock, Punk, Jazz, Anklängen an Kurt Weill und dröhnender Marschmusik herum. Eins, zwei, drei, hehehe, der Glatzköpfige singt das Lied vom nachstalinistischen Betriebsfest, und eine ganze Armada von blonden Russinnen in schwarzen Uniformröcken und weißen Blusen marschiert ein. „Unser Fest wird so aussehen: Zuerst nehme ich meinen Platz ein. Das weitere ist dann ganz einfach: eins, zwei, drei hehehe, jawohl, noch ein bißchen fröhlicher, ein bißchen lebendiger, Leute!“ Grinsend beginnt er eine Frau zu würgen auf dem fröhlichen Fest, Fahnen und Arme werden geschwenkt. „Hurra!“, schreit der teuflische Redner und haut eine Dose Mineralwasser in die Luft. „Hurra!“, begeistern sich die Knackis und verlangen trampelnd, klatschend, schreiend nach Zugaben.

P. S.: Für Nicht-Hamburger und Faulenzer: In der Nordkette des dritten Fernsehprogramms ist AVIA heute um 21.50 im Rahmen von „Kultur aktuell“ zu sehen.