„Im Moment ist die Situation abnormal“

 ■ I N T E R V I E W

Daniel Passent ist stellvertretender Chefredakteur der Warschauer Parteizeitung 'Polityka‘ und (trotzdem) parteilos. Die 'Polityka‘ gilt als Flaggschiff der Liberalen in der Partei und hat sich in der Vergangenheit in kritischen Situationen entweder durch Einnahme betont versöhnlicher Standpunkte oder - im Falle von Kampagnen gegen die Opposition - durch Schweigen ausgezeichnet. Passent gilt als einer derjenigen aus dem Establishment, der offen ausspricht, was andere nur unter vorgehaltener Hand zu sagen wagen. Er erhebt in dem Interview allerdings den Anspruch, nur für sich und keineswegs für die 'Polityka‘ oder die Partei zu sprechen.

taz: Vor ziemlich genau 20 Jahren gelang es der tschechoslowakischen KP, ihre Stellung in der Bevölkerung ganz entscheidend dadurch zu stärken, daß sie einen Teil der Macht abgab. Können Sie sich so ein Experiment in Polen vorstellen?

Daniel Passent: Nein. Wir haben hier ganz andere Verhältnisse, und außerdem will ich es mir gar nicht vorstellen, denn die damalige Entwicklung führte in die Katastrophe - zu einer ausländischen Intervention. Politiker sollte man nicht nach ihren Absichten, mögen sie auch noch so gut sein, beurteilen, sondern nach dem Erfolg. Daher sehe ich trotz aller Sympathie für die Demokratisierungs- und Reformbestrebungen Dubceks eben vor allem, daß es nicht geklappt hat.

Ist es denn in der Epoche Gorbatschows nicht wahrscheinlicher, daß eine solche Entwicklung eine innere Angelegenheit Polens bliebe?

Ja, wir haben jetzt eine andere Lage. Aber es weiß auch keiner, wie weit deren Konsequenzen gehen. Ich glaube, nicht einmal Gorbatschow weiß das. Sicher ist der Spielraum in den sozialistischen Ländern gewachsen, auch innenpolitisch gibt es mehr Bewegungsfreiheit. Aber wieviel, dafür gibt es keine eindeutige Grenze. Und ein wesentlicher Unterschied zwischen den Herrschenden und der Opposition in Polen liegt darin, daß die Opposition, die ungeduldig, von Zorn und Haß erfüllt ist, diesen Spielraum eben für weiter hält als die Regierung, die die Verantwortung trägt für das Land, seine Souveränität und seine Grenzen.

1968 erklärte sich Gromulka bereit, mit in die CSSR einzumarschieren, weil ihm Dubceks Experiment aus dem Grund verdächtig war, weil es Reformen von unten ermöglichte. Für Gromulka waren Reformen und Demokratisierung etwas von oben Verordnetes, was die Partei gewährte und kontrollierte. Wie sieht denn das heute aus?

Ich glaube, auch heute würde die Partei die Demokratisierung gern von oben her dosieren, aber sie ist sich auch im klaren darüber, daß sie darüber nicht mehr allein entscheiden kann, weil unabhängige Bewegungen - auch in Ungarn und der UdSSR - zeigen, daß die Partei nicht allein regieren kann. Das Problem in Polen besteht darin, daß man eine Abgrenzung finden muß zwischen dem Anspruch der Partei auf die „führende Rolle“ und den Erfordernissen der Demokratisierung und der Reform, die die absolute Mehrheit der Gesellschaft einschließlich der Parteimitglieder will. Das müssen die Gespräche um den runden Tisch zeigen, wo diese Grenze verlaufen soll.

Wurden aber die Reformen bisher nicht auf eine Weise durchgeführt, die es jederzeit wieder erlaubt, den ganzen Prozeß zurückzuführen? Ihre Zeitung hat vor kurzem - was eine ziemliche Sensation war - als erste Zeitung in einem sozialistischen Land das Geheimreferat Chruschtschows von 1956 über die Verbrechen Stalins veröffentlicht. Trotzdem die Zensur gibt es weiterhin, und sie hätte das Ganze auch beschlagnahmen können. Was könnte man denn tun, um diesen Reformprozeß unumkehrbar zu machen?

Die Regierung ist nicht allmächtig und kann nicht einfach machen, was sie will. Wenn wir davon ausgehen - wie viele das tun -, daß die Regierung schwach und die Kirche und die Opposition stark sind, dann können sich die Herrschenden in Polen nicht alles erlauben. Die Arbeiter und Bürger ließen sich das nicht bieten. Nicht mal die Journalisten. Niemand zwingt einen Journalisten, etwas Bestimmtes zu schreiben. Sie können vielleicht nicht alles schreiben, was sie denken, man streicht ihnen was weg, aber niemand zwingt sie, gegen ihr Gewissen zu schreiben. Keiner ist gezwungen zu schreiben, daß Solidarnosc eine westliche Agentur und Walesa ein westlicher Spion ist. Sowas hat man vielleicht mal vor 20 Jahren gedruckt...

...beziehungsweise vor sieben Jahren...

Na schön, aber das hängt davon ab, wo. Bei uns (in der 'Polityka‘, d.Red.) finden Sie so etwas nicht. Natürlich gibt es blinde Dogmatiker, Karrieristen, die so was schreiben, aber keiner wurde dazu gezwungen. Eine Garantie, daß die Demokratisierung, die Reform, nicht mehr zurückgenommen werden kann, können in Zukunft nur legal arbeitende, unabhängige Gruppierungen sein: Vereinigungen, Clubs, Parteien, Zeitungen, Kirchen...

Gewerkschaften...

Gewerkschaften, verschiedene Kräfte und Elemente der Gesellschaft, die gewisse Interessen schützen. Im Moment ist die Situation abnormal, krankhaft, weil ein Dualismus entstanden ist: auf der einen Seite die Macht, auf der anderen Solidarnosc.

Mir scheint, die derzeitige Führung hat eine Art Allergie gegen Solidarnosc. Wäre Solidarnosc denn so eine große Bedrohung für die Regierung?

Ja.

Das heißt, eine Legalisierung von Solidarnosc ist ausgeschlossen?

Nichts ist ausgeschlossen. Man muß das ganz kühl betrachten. Wenn die Solidarnosc die Gesellschaft ist, die Arbeiterklasse, eine Organisation mit zehn Millionen Mitgliedern - dann ist das eine Bedrohung für die Herrschenden. Denn die stützen sich dann ja bloß auf ein paar Fabrikdirektoren, das Militär und die Polizei.

Aber dieser Ansicht sind sie ja gar nicht, daß das so ist.

Richtig. Aber das Problem liegt darin, das Solidarnosc die einzige bedeutende oppositionelle Kraft ist. Wenn es davon zehn oder zwanzig gäbe mit verschiedenen Interessen, dann würde sich zwischen diesen eine Koalition bilden, die an den jeweiligen Sachfragen orientiert ist. Aber da diese verschiedenen Interessen im Moment geballt auftreten - im Rahmen von Solidarnosc -, ist ihr Hauptziel eben, das System zu ändern. Und erst anschließend kommen die Interessenunterschiede. Die Chance des runden Tisches besteht darin, daß es dabei möglich werden könnte auszuhandeln, was wem erlaubt ist.

Solidarnosc fordert...

Solidarnosc fordert ja als Ausgangsbasis ihre Anerkennung. Folglich könnte die Diskussion darum gehen, welche Art von Solidarnosc legalisiert werden soll; welche Stuktur, was sie darf, was nicht. Und dabei könnte man auch gleich noch ein paar andere Organisationen legalisieren.

Interview: Klaus Bachmann