In Polen hat niemand das Gorbatschows-Buch gelesen

Opposition ist skeptisch gegenüber veränderten Strategien kommunistischer Machthaber / Der autoritäre Charakter des Systems bliebe erhalten  ■  Aus Warschau Matthias Geis

Seit Jan Josef Lipsky als Achtzehnjähriger am Aufstand im Warschauer Ghetto teilnahm, kommt ihm das Deutsche nur noch stockend über die Lippen. „Die Polen sind in ihrer Geschichte zu oft ... enttäuscht worden.“ Skeptisch wiegt er den Kopf - „betrogen; die Polen sind zu oft betrogen worden.“ Seine Stimme wird eine Spur lauter und nachdrücklicher, als er den Erfahrungshintergrund pointiert, der viele Polen auch gegenüber erfolgversprechend scheinenden politischen Entwicklungen in der Reserve hält. Dem grauhaarigen Herr, Gründungsmitglied des KOR und Vorsitzender der halblegalen „Polnischen Sozialistischen Partei“, mit dem ich im Cafe Swiat in der Warschauer Altstadt über die Möglichkeit einer politischen Reformentwicklung in Polen spreche, ist die Verhängung des Kriegsrechts 1981 noch zu nah. Natürlich registriert er die atmosphärischen Veränderungen seit Gorbatschows Machtantritt, die innenpolitische Liberalisierung. Selbstverständlich werde er an den Vorbereitungstreffen der Opposition für das „Round-table-Gespräch“ teilnehmen.

Doch mit den meisten Gesprächspartnern aus der polnischen Oppositionsszene teilt er die tiefe Skepsis gegenüber veränderten Strategien kommunistischer Machthaber. Während im Westen die Sowjetunion entdeckt wird, das entspannte internationale Klima gesamteuropäische Utopien zeitigt und die Gorbatschow-Euphorie längst das Vermarktungsstadium erreicht hat, frappieren die Polen den westlichen Beobachter mit kühler Distanz, der sie eine Spur Sarkasmus unterlegen.

„Ich kenne keinen, der das Gorbatschow-Buch gelesen hat“, meint der Germanist und Übersetzer Andrej Kopacki. Die Szenen im polnischen Fernsehen, die einen eifrig signierenden Kreml-Chef bei seinem Warschau-Besuch zeigten, hält er für reine Propaganda.

Die wirtschaftliche Misere und die wachsende gesellschaftliche Opposition - so räumt er ein - könnten die Regierung jetzt zu ernsthaften Verhandlungen und weiteren Zugeständnissen zwingen; doch der totalitäre Charakter des Systems bliebe erhalten, solange die polnischen Kommunisten nicht bereit seien, sich der Konkurrenz unabhängiger Parteien auszusetzen und ihr Machtmonopol in freien Wahlen zur Disposition zu stellen: „Warum sollten wir Minimalisten sein?“ - fragt mich Cesary Jenne, Universitätsangestellter und Solidarnosc-Sympatisant mit schalkhaftem Lächeln.

Andererseits sind die polnischen Kommunisten so nachhaltig diskreditiert, daß ein von ihnen mitgetragener Veränderungsprozeß grundsätzlich auf das Mißtrauen der Bevölkerung stößt. Die Vorstellung eines Bündnisses zwischen reformbereiten Parteileuten und einer wiederzugelassenen unabhängigen Gewerkschaft, die mit Moskauer Rückendeckung eine schrittweise, Systemveränderung durchsetzen könnten, bezeichnet Andrej als „typisch westlich“. „In Polen“ - so Andrej nachdenklich - „ist die politische Auseinandersetzung von moralischen Kategorien und Symbolen überfrachtet.“

Eines dieser symbolträchtigen Momente im polnischen Bewußtsein ist, selbst bei jüngeren Oppositionellen „die Nation“ - das Maß ihrer Souveränität und ihr Ansehen - vor allem im Westen. Der auf den ersten Blick befremdlich wirkende Nationalismus ist - im jahrhundertelang zwischen Großmächten zerriebenen Polen - eine defensive Einstellung mit emanzipatorischem Gehalt. Bedenkt man das, so gewinnt Gorbatschows Weigerung, die sowjetische Verantwortung für das Massaker in Katyn einzugestehen, eine herausragende politische Bedeutung, weil sie auch den Reformer im Kreml ins antisowjetische Ressentiment miteinschließt. Auch die Diskreditierung der polnischen Kommunisten erhält ihre Impulse nicht nur aus der Misere des Systems, für das sie verantwortlich sind, sondern nachhaltig auch aus ihrer Rolle als „Statthalter“ der Großmacht.

Der polnische Nationalismus ist eine Resistenzkraft gegen äußere und - wegen der Trennung von System und Nation - auch gegen innere Repression. In seiner Absolutheit jedoch wird er zu einem komplizierenden Faktor für eine auf Kooperation angelegte Entwicklung.Für Jan Josef Lipsky etwa ist die polnische Souveränität die grundlegende Forderung der Opposition bei der Verhandlung mit der Regierung. Nicht das Kriegsrecht - das ihn acht Monate hinter Gitter brachte hält er für Jaruzelskis größte politische Verfehlung, sondern die Tatsache, daß der General die Unabhängigkeit Polens nicht stärke; - wieder erscheint ihm das Wort zu schwach: „daß er sie nicht erobert.“ Selbst jüngere Oppositionelle die in der Diskussion kein gutes Haar am System finden, gehen in die Defensive, wenn sich westliche Autoren über die „polnische Misere“ auslassen: „Das kann man im Osten schreiben, im Westen verstärkt das nur alte Stereotypen und Vorurteile.

Wo der Osten abgewirtschaftet hat, wird der Westen zum strahlenden Vorbild. Seit selbst polnische Kommunisten privatökonomische Initiative und marktwirtschaftliche Elemente fördern wollen, scheinen alle ideologischen Barrieren gebrochen. Gegen die Forderung mehr Markt und die untergründige Assoziation von ökonomischer und individueller Freiheit gibt es heute in Polen kein Gegenargument. Wo der Taxifahrer zwei Monate auf die Reparatur seines Wagens wartet oder der Direktor einer Schule und seine Frau - Psychologin - im Westen Wohnungen renovieren, um in einem Monat zwei polnische Jahresgehälter zu verdienen, verbieten sich „linke“ Gegenargumente. Auch der Markt ist längst zum Symbol geworden. Wenn der westliche Besucher erlebt, wie sich gestandene Männer vor den armseligen Auslagen eines Schreibwarenladens in gierig -drängelnde Kinder verwandeln, ahnt er daß der Markt im Bewußtsein vieler Polen längst seine enge materielle Bedeutung gesprengt hat. Er ist der Königsweg, auf dem die alltägliche Demütigung beendet werden soll.

Wie könnte es anders sein, hält man sich auch in marktwirtschaftlichen Fragen an die westlichen Lehrmeister und nicht an östliche Epigonen: Slawek Bielecki, ein auch international arbeitender Architekt, der mit einem Hungerstreik das Ende seiner zweijährigen Haft erzwang, fragt mich in seinem westlich gestylten Atelier über den Dächern Warschaus nach dem englischen Ausdruck für „Perestroika“ und antwortet selbst: „science fiction“.