Wo ist der Kanzler?

■ Umzingelt von Sponsoren: Der Profi-Kanzler gab sein Fest für 4.000

Mist, jetzt habe ich die Reden der hohen Herren verpaßt, über die ich so kluge Dinge hätte schreiben können. Wann hört man die ganze Mischpoke schon in launiger Kanzlerfestlaune? Aber ich werde schon nicht soviel versäumt haben. Die sagen ja doch immer das Gleiche. Also 'rein in die Kongreßhalle. Mit der Akkreditierungskarte stolz vorbei an den Kontrollen. Wie? Zum Hintereingang soll ich rein? So geht man hier also mit Pressevertretern um! Egal, wichtig ist, was hinten 'reinkommt, oder so ähnlich sagte mal der Kanzler.

Erstmal muß ich mich stärken. Vor der Politik kommt der Durst. Hoffentlich haben die ein tolles Buffet. Oh Gott, sind das Menschenmassen hier drin. Ob jung, ob alt, die sehen alle mittelalterlich aus. Fein gekleidet, frisch onduliert die Damen, wahrscheinlich haben die tagelang gegrübelt, was sie zum Kanzlerfest anziehen sollen. Wo ist nur die Sektbar? Und wo, bitte schön, ist der Kanzler?

Du liebe Güte, das sieht ja aus wie in der Lebensmittelabteilung vom KaDeWe! Lauter kleine Stände von Firmen, die ihre Spezialitäten anbieten. Ach so, Sponsorenfest. Die Industrie finanziert Kanzlers Privatvergnügen. Moment, bloß nichts durcheinander bringen. Wo könnte bloß der Kanzler sein? Da, ein Menschenauflauf mit Blitzlichtgewitter! Nix wie hin! Ach, bloß Genscher. Sieht ziemlich fertig aus. Ein Haufen betongelockter Damen um ihn herum mit leuchtenden Augen. Eine hält ihm ihre Brust entgegen als Schreibunterlage für ein Autogramm. Genscher grinst und unterschreibt. Das glaubt mir kein Mensch. Genscher, der Michael Jackson der Außenpolitik.

Ich muß an die Luft. Oben auf der Terrasse scheint die Post abzugehen. Hoffentlich gibt es dort was zu essen. Und eine Sektbar. Bis man sich hier die Treppe hochgewühlt hat. Im Vortragssaal ist auch was los. Ein prima Trommelsolo tönt da raus. Vielleicht ist der Kanzler da drin? Aha, Jugendkultur wird geboten. Vier Jungs tanzen auf der Bühne Breakdance. Schade, schon vorbei. Ein jovial-gewichtiger Conferencier betritt die Bühne. „Früher hieß das Tieftanz, auf dem Pflaster tanzen und es berühren, aber hier gibt es ja kein Pflaster, hahaha.“ Aber Pflastersteine, hihihi.

Hier drin ist der Kanzler auch nicht. Also weiter Richtung Terrasse. Auch hier bloß Stände und kein anständiges Buffet. Wie auf dem Turmstraßenfest. Berliner Buffet! Bulletten und Kartoffelsalat. Pah, Kanzlerfest! Das gab's ja nicht mal bei Gabi auf der Fete! Dort hinten Lacroix.

Sind das nicht die mit der Schildkrötensuppe? Hier bieten sie allerdings rücksichtsvollerweise Steinpilzsuppe an. Oder subversiverweise, glaubt man dem Strahlenkompaß. McDonald's ist auch vertreten. Wahrscheinlich für die alliierten Uniformträger, damit sie sich hier in Berlin schön heimisch fühlen. Und weil alles so schön international und freiheitlich-demokratisch ist, dürfen dieKanzlerburger auch von ein paar mutmaßlichen Asylbewerbern serviert werden. Vom Kanzler ist auch hier nichts zu sehen. Nur die Stimme dieses Herrn, Ost. Aber der ist langweilig.

Also wieder 'rein in die Halle. Vielleicht noch schnell an die Sektbar? Ach du meine Güte, den kenne ich doch! Nein, nicht der Kanzler. Wolfgang aus meiner alten WG. Was macht der denn hier? Der wird doch nicht etwa übergelaufen sein. „Was machst du denn hier?“ Äh ja, für die taz und so. Ob er weiß, wo der Kanzler ist. Jaaa, zuletzt unten in der Tanzbar. Ich bin also auf dem richtigen Weg. Eine Tanzkappelle spielt seichte Musik. Schummerlicht gibt's auch. Die Leute sollen sich ja schließlich so richtig amüsieren. Und Berge von Petits Fours und Pralinen.

Und diese Torte! Ein Riesenteil. Kein Wunder, daß sich die Leute da so drängeln. Nein nicht die Torte ist es, sondern ein anderes Riesenteil. Der Kanzler!!! Da steht er nun und verteilt den Kuchen. Konnte der sich keine dämlichere Symbolik ausdenken? Ein Stückchen für die Rollstuhlfahrerin. Ein Stückchen für den türkisch aussehenden älteren Mann. Ein Stückchen für den smarten Mitzwanziger.

Die hagere Blonde kreischt entzückt, als der Koloß ihr ein Pralinchen in den Mund steckt. Eine Hand schiebt sich in meine Richtung, mit einem Teller voll Kuchen. Ich? Nee, nee, ich nehme keinen Kuchen vom Kanzler. Da sei mein Stolz vor! Ich gehe lieber wieder eine Sektbar suchen. Die ist wenigstenz Kanzlerfrei!

Petra Dubilski