DIE VIELFALT DES UNMÖGLICHEN

■ Der russische Schriftsteller Andrej Bitow plauderte in der Akademie der Künste

Ohne die Zuhörer durch Mimik oder Intonation vorzuwarnen und die Lacher auf seine Seite zu ziehen, führte der russische Schriftsteller Andrej Bitow, geboren 1937, die Kunst des Plauderns am Freitag in der Akademie der Künste mit brillant trockenem Wortwitz vor. „'Aber nein, ich habe gar nicht geheiratet‘, erzählte mir mal ein georgischer Freund, 'ich habe bloß eines Tages entdeckt, daß ich in der Küche sitze und Suppe esse...'“

Hanns Zischler las aus Bitows Puschkinhaus; der Roman ist endlich auch in der Sowjetunion in Zeitschriftenform publiziert und wird im nächsten Jahr auch als Buchausgabe dort vorliegen. Außerdem war ein Kapitel aus dem noch nicht auf deutsch erhältlichen Georgischen Album zu hören, übersetzt von Rosemarie Tietze; sie folgt nicht sklavisch dem Text, sondern läßt sich liebevoll frei von ihm verführen, bis auch die deutsche Variante ins Tanzen kommt.

Im Georgischen Album inszeniert der Autor Bitow mit Worten, wie er sich vorstellt, daß der georgische Filmregisseur Josseliani eine Episode von Bitow inszeniert haben würde. Nina und Nana sind Schwestern, rücken dann aber als Mutter und Tochter auseinander. Im Puschkinhaus verwahrt sich der Großvater dagegen, vom Enkel zum Helden stilisiert zu werden; er besteht darauf, nicht als Unschuldslamm in Stalins Lagern geschmachtet zu haben, und verwahrt sich gegen die Vorstellung, er sei ungebrochen als der Frühere aus dem Lager zurückgekehrt. Er insistiert, er habe zu Recht gesessen, und empfindet die nachträgliche Rehabilitierung als Urteil, das 27 Jahre seines Lebens ausradiert. Als der desillusionierte Enkel meint, er verstünde, was der Großvater meint, meint der Großvater schon wieder etwas anderes und beweist dem Enkel, daß der jedem Unsinn unbesehen Glauben schenkt.

Morgens stehen sie pünktlich auf, gehen pünktlich aus dem Haus, der Bus bringt sie dahin, wo sie hin wollen und nicht er, dort tun sie irgend etwas, dann fahren sie wieder zurück, der Bus bringt sie auch diesmal wieder an den gewünschten Ort, sie kommen an, finden ihr Haus, dafür haben sie besondere Nummern, nach denen sie sich richten und die sie sich genau merken, die Nummern decken sich stets genau mit dem, was sie sich gemerkt haben, sie täuschen sich nie; zweimal im Monat bekommen sie dafür, daß sie hin- und herfahren, irgendwelche Papierfetzen, wobei jeder genau weiß, wieviel das zu sein hat, dann tauschen sie diese Papierfetzen gegen irgendwelche Waren ein, die sie nach Hause tragen; sie finden ihre Straße, gehen durch die Tür mit der Nummer, knipsen das Licht an, und schon ist es hell, draußen Schneegestöber, doch der Heizkörper ist warm... Diese Nummern sind notwendig, nur ein Dummkopf kann das leugnen, ohne sie geht es gar nicht! Ich habe mich aus eigener Dummheit verlaufen, und du, Ljowuschka, nickst mit dem Kopf und weißt selbst nicht, warum. Ich werde dir sagen, wovon die Rede ist... Vor kurzem, es ist noch gar nicht lange her, bin ich Brot holen gegangen und habe mich unterwegs verlaufen. Die Häuser sehen ja alle gleich aus. Und meine Adresse hatte ich vergessen, naja, sie ist mir eben entfallen. Ich irrte umher, es war kalt, und begann zu weinen. Ich hatte nicht geglaubt, daß mir im Leben noch irgendetwas geschehen könnte, es schien schon alles geschehen zu sein, doch nein... Ich ging zurück in die Bäckerei, setzt mich hin und weinte. Sie holten einen Milizionär. Er sagte: Der Opa ist nüchtern, er hat das Gedächtnis verloren, das ist nicht meine Aufgabe, sondern die eines Arztes. Sie holten die Erste Hilfe. Der Arzt sagt: Der Opa ist gesund, er hat vergessen, wo er wohnt, es ist Sache der Miliz, ihn nach Hause zu bringen. Sie diskutierten lange, doch dann nahm sich der Arzt, ein Intellektueller, ein sympathischer, junger Bursche, der Sache an. Er bleibt vor einem Haus stehen und fragt: „Ist es deins?“ „Vielleicht ist es meins“, sage ich. Er: „Verdammt und zugenäht!“ Da kommt ihm ein Geistesblitz. Er fragt die Kinder auf der Straße: „Ist das euer Opa?“ - „Nein“, sagen sie. Schließlich erkannte mich jemand vor einem der Häuser, es war zufällig meines. Seitdem verlasse ich die Wohnung nicht mehr.

Bitow springt mit dem Leser um, wie der Großvater mit dem Enkel. Wenn der Held des Romans mausetot ist, läßt er ihn wieder lebendig werden, und wenn er seine Nina graziös ans Klavier plaziert und charmant die Tasten anschlagen läßt, überrascht er uns mit der Auskunft, Nina sei „genialisch unmusikalisch“ und könne noch nicht einmal das einfachste Kinderlied spielen. Trotzdem überrumpelt Bitow seine Leser und seine Helden, nicht wie der Okkupant den Feind, sondern läßt sie einfach in dieselben Fallen tappen. So ist der Leser nicht allein der Dumme, sondern wiegt sich genauso in Träumen, wacht genauso ernüchtert auf wie Bitows „Ich“ der Erzählung, das immer dann im größten Irrtum ist, wenn es meint, auch die letzte Illusion endgültig über Bord geworfen zu haben.

Bitow erläuterte in der Akademie der Künste sein Verfahren, Dinge anders zu beschreiben. Er könne nie sagen, ein Ding sei so und nicht anders. Er könne nur sagen, es sei so oder vielleicht so oder vielleicht so oder vielleicht so. Und bei jedem „so“ malt Bitow mit dem Zeigefinger einen Punkt in die Luft und läßt die Punkte so aufeinander folgen, daß eine Kreislinie zustandekommt. Man ist versucht, ihn zu korrigieren. Meist sagt er, etwas ist nicht so und nicht so und nicht so und umreißt mit den Punkten auf der Kreislinie eher das Loch in der Mitte, als daß er einen positiven Raum abzirkeln würde.

Bitow, dem in West wie Ost Unverständlichkeit vorgeworfen wird, erklärt sich selbstherrlich zum Demokraten. Eines stimmt sicher: Er rechnet ab mit der Tyrannei eines Denkens, das nur zweigliedrige Widersprüche kennt. Regierung und Opposition, Stalinismus und Antistalinismus, Denunzianten und Opfer, Realität und Irrealität, Möglichkeit und Unmöglichkeit. Er denkt die Vielfalt des Unmöglichen und weigert sich, das Entweder-Oder festzuschreiben. Was dabei aufscheint, ist das ganz Andere.

Birgit Veit