Tutti Fratelli

■ Henry Dunant, der Visionär. Dokumentation des Schweizer Fernsehens, Samstag, 17.9. Südwest 3, 22.40-23.10 Uhr

Tutti Fratelli!“ schrie Henry Dunant in Oberitalien gegen den Krieg. „Alle sind Brüder!“ Mit diesem Ruf versammelte er Hilfsbereite in der Kirche von Solferino, damit sie die Verwundeten pflegten, die die Schlacht zwischen Napoleon III. und Österreich hinterlassen hatte. Das Rote Kreuz war erfunden. 1863 wurde es gegründet. Aber Dunant war nur noch der Sekretär, und als seine Vaterstadt Genf dann bei ihm die Schulden eintrieb, verzog er sich nach Paris, verarmte, verhärmte sich, lief noch mal zur Top-Form auf, als die Preußen in Paris einzogen, und ging dann beleidigt ins Exil, vergessen und krank. Erst als er ein Greis war, über 70 Jahre alt, bekam er 1901 den ersten Friedensnobelpreis.

Eine tränenrührende Geschichte. Ich habe sie, woher sonst, aus dem Fernsehen. Südwest 3 füllte den Samstagabend mit dem Roten Kreuz. Erst 125jähriges Jubiläum, dann ein krachiger französischer Spielfilm von 1948 über Dunants Leben, beinhaltend eine noch rührendere Liebesgeschichte mit einer Dame, die beim Krankenpflegen stirbt. Und dann eine Dokumentation aus der Schweiz und dann noch eine Dokumentation aus Amerika. Das war einen Abend lang Elend, Hunger, Tod, Blut, Staub und dusseligste Philantrophie voller Schlachten, Fanfaren und Leichenjournalismus.

Die Schweizer Dokumentation dauerte eine halbe Stunde. Die erste Viertelstunde sah man Schlachtengemälde, Schlachtenstiche und Zeichnungen von Schlachten, teils schwarzweiß, teils koloriert. Das Rote Kreuz immer signalrot. Dann uralte Fotos. Das Leben von Dunant, huschhusch abgehandelt, Genf, Paris, Stuttgart, Istanbul, Athen. Wie eine Diavorführung im Zeitraffer. Junger Dunant, alter Dunant. Er sah dem Schauspieler im Film vorher wirklich ähnlich. Dazu Fanfaren und Trommelwirbel. Die andere Viertelstunde bewegten sich die Bilder. Erster Weltkrieg, Kriegsgetümmel, Pulverdampf, Fanfaren, Abessinien -Krieg, rennende Rot-Kreuz-Leute, Spanienkrieg, rennende Rot -Kreuz-Leute, Pulverdampf, Zweiter Weltkrieg, Kriegsgehetze, Pulverdampf. Ein aalglatter Südfunksprecher näselt Zahlen und Daten. Das dunkle Kapitel des Roten Kreuzes wird dunkel formuliert: die geflissentliche Mißachtung der Judenermordung. Dazu Bilder von Schiffen und Flüchtlingen. Da half das Rote Kreuz nun mal nicht. Dann noch ein bißchen weiße Fahnen mit rotem Kreuz im Libanon. Junge Kerle hissen dazu die Gewehre. Nun hat das Rote Kreuz sich der Vision Dunants angenähert, tremoliert der Sprecher: Es ist überall. Die Grundsätze des Vereins purzeln in den überstürzten Abgesang: Universalität, Freiheit, Einigkeit, Unabhängigkeit, Neutralität ...

Danach kam das Ganze auf amerikanisch. Das Erdbeben ist im Studio gestellt, die Wirklichkeit nicht schlimmer. Unnötig zu erwähnen, daß auch hier sich Leichen und Verletzte häufen. Die Kamera in die Katastrophen der vergangenen Jahre gehalten. Das schafft. Der Hinweis auf die Fragwürdigkeit des Katastrophenjournalismus ist wieder nur ein Freibrief für das Dabeisein beim Sterben in der Dritten Welt. Wir sehen alles. Und was wir nicht sehen, zum Beispiel hinter die Kulissen einer gigantischen Rot-Kreuz-Organisation, das kriegen wir auch im Fernsehen nicht zu sehen. Da schläft das Objektiv.

Und dann die letzten Nachrichten: „In Seoul brennt“, sagt die Sprecherin und weckt meine Katastrophengeister, „in Seoul brennt das olympische Feuer.“

Christine Lehmann