Ire, Preuße, Schweizer, oder was?

■ Die Schwierigkeit des Europäers, den Koreaner sozio-kulturell in den Griff zu bekommen

Seoul (taz) - Es war im November 1986 bei einer Tagung der evangelischen Akademie Bad Boll, als ein Sportjournalist die überraschende These in den Raum warf: „Der Koreaner gilt als der Ire Asiens.“ Keine Erklärung, kein Widerspruch, die Zuhörer waren kalt erwischt. Und es war, als alter Fan der grünen Insel, eine meiner vordringlichsten Aufgaben, diese Behauptung vor Ort auf ihren Sinn zu untersuchen.

Die ersten Eindrücke waren ernüchternd: nirgendwo floß das tiefbraune Guinness, auch den berühmten Whiskey hält der Koreaner nicht feil. Nur langsam dämmerte, was der Mann gemeint haben könnte. Hier wie dort leben die Menschen am Rande eines Kontinents, entweder unbeachtet von den anderen, oder aber nicht für voll genommen. Und hier wie dort trauert man um die politische Teilung des Landes.

In meine ganze Freude über diese Erkenntnisse platzte ein Reiseführer mit dem Satz: „Der Koreaner ist der Preuße Asiens.“ Gemeint ist dabei nicht, daß jahrzehntelange Militärdiktatur und entsprechender Drill ihre Spuren hinterlassen haben. Gemeint ist: Was dem Preußen mittels gestrenger Erziehung in den Schädel gebimst wurde Disziplin, Untertanengeist, pflichtschuldige Befehlsausführung - ward dem Koreaner in die konfuzianische Wiege gelegt, sozusagen.

Nun also, nachdem die Annäherung an den Einheimischen schon einigermaßen gelungen schien, kam das 'Merian'-Heft daher. „Korea“, so hieß es da auf einmal, sei „die Schweiz Asiens“. Dankenswerterweise hielt der Autor mit der Erläuterung nicht zurück. „Die Berge“ erinnerten ihn daran. Tatsächlich läßt sich das recht schnell verifizieren. Ein Blick vom Fernsehturm, mitten in der Stadt gelegen, zeigt das weit ausgebreitete Seoul von Bergen umgeben und von Hügeln durchstoßen. Vollends überzeugend dann der Spaziergang an einem Sonntag morgen. Zwischen U-Bahn-Eingängen und hochgeschossenen Bankgebäuden, im Herzen dieser Metropole mit zehn Millionen Einwohnern, sammeln sich kleine Gruppen in Kniebundhosen und roten Strümpfen, rucksackbewehrt und mit feschen Wanderhüten versehen.

Und ein Gang durch den Osttormarkt offenbart endgültig die alpine Leidenschaft des Koreaners. Geschäft an Geschäft, alle sind sie vollgestopft mit Seilen und Haken, Zelten und Minikochern, Stiefeln und Bickeln. Da ist nicht verwunderlich, was der immerhin ranghöchste Olympier, IOC -Präsident Samaranch, dieser Tage als Gastgeschenk mitbrachte: Ein Stück Felsen vom Matterhorn.

Doch in einem ist man hier bereits am Schweizer vorbeigezogen. „Zürich“, mußte ein Besucher feststellen, „ist gegen Seoul ein Dreckloch“. Überall wird gewienert (sic!) und gefeudelt, sei es in der fahrenden U-Bahn mit nassen Lappen oder auf den Straßen mit riesigen Staubsaugern. Und mit Vehemenz wird den stadtweiten Schandflecken zu Leibe gerückt, die aus einer Besonderheit koreanischer Zahlungsgewohnheit herrühren: Wer im Restaurant Geld auf den Tisch legt, bekommt zumindest einen Kaugummi zurück. Deshalb sind die Bürgersteige übersät mit schwarzen Punkten - breitgetretener, festgetrockneter Klebestoff.

Nun muß man nicht den alten Zank zwischen Bayern und Preußen hervorkehren, um von einer anderen Neigung des Koreaners überrascht zu sein. Wie Pilze aus dem Boden schießen hier Schankhäuser, in denen ein kühles Gezapftes angeboten wird. Die heißen dann Löwen Hof oder Blue Hof, und mit viel Spaß werden zu Zitherklängen Reisgerichte und Frankfurter Würstchen in die Backen geschoben. Der Schwabe, möchte man meinen, kann bei soviel süddeutschem Brauchtum nicht weit sein, und tatsächlich ist der Koreaner ein ebenso g'schaffiger Mensch. Arbeitszeiten von über 50 Stunden in der Woche packt er locker und sorgt für prächtiges Wirtschaftswachstum; die fünf Tage Urlaub, die ihm pro Jahr zustehen, wagt er kaum anzutreten: Man könnte ihn in der Firma für einen Faulpelz halten.

Eine der ersten Erfahrungen in Seoul ist der Verkehr und die Erinnerung an den Italiener. Das Auto ist alles, der Fußgänger nichts, und es kann als bezeichnend gelten, daß der bislang verrückteste Taxifahrer mit der Auszeichnung „Best Driver“ behaftet war.

Noch sind die Eindrücke natürlich unvollständig, doch schon heute läßt sich sagen, daß der Koreaner so fremd gar nicht ist, wie er ansonsten beschrieben wird. Im Grunde erfüllt er nur kühne EG-Visionen: er ist - Hokuspokus Fidibus - der ideelle Gesamteuropäer. Was er mit dem Schweden, dem Spanier und den anderen gemein hat, werden wir schon noch herausbekommen.

Thömmes