Neues Leben am Polarkreis

■ Berliner Jugendliche helfen beim Aufbau einer internationalen Begegnungsstätte in Nyksund in Norwegen

Mehmet kann nachts nicht schlafen, „wegen der Helligkeit“. Für die Mitternachtssonne hat er deshalb nicht so viel übrig. Aber sonst: „Die Gegend hier und das Dorf jeht.“

Mehmet und dreizehn andere Dachdeckerlehrlinge vom Kreuzberger Ausbildungsprojekt 'Kreuzwerk‘ decken in diesem Sommer Dächer in Nordnorwegen, um aus einem von Menschen und Gott verlassenen Fischerdorf namens Nyksund auf den Vesteraalen-Inseln, 200 Kilometer nördlich des Polarkreises, eine Internationale Bildungs- und Begegnungsstätte zu machen. Eine Begegnunsstätte für Jugendliche aus ganz Europa, denen es ähnlich geht wie den Kreuzwerkern: Sie sind arbeitslos oder von Arbeitslosigkeit bedroht. An diesem Ort sollen die Jugendlichen durch selbstbestimmtes Lernen und Arbeiten, erlebte Solidarität und ökologiegerechtes Leben ihre „psychosoziale Lage“ überwinden.

Diese Idee entstand vor acht Jahren, als der Berliner Sozialpädagoge Burkhard Herrmann - damals noch Student an der TU - zufällig auf einer Fete von dem verlassenen Dorf in Norwegen hörte, in dem noch zehn Jahre zuvor ein heiles Dorfleben herrschte mit knapp 100 Einwohnern, einem Krämer, einem Schmied, einem Postboten und einem Hafen, der sich dem fischreichen Nordmeer öffnete. Die Menschen in Nyksund lebten hauptsächlich von der Fischverarbeitung bis Anfang der siebziger Jahre die modernen Trawler nicht mehr durch ihre Hafeneinfahrt paßten. Vom Staat entschädigt packten sie ihre Sachen, so Halsüberkopf, daß in vielen Fenstern die Gardinen hängen blieben. Nyksund wurde ein weithin bekannter Geisterort, dessen unheimlich knarrende Türen im Wind fortan von dem abrupten Strukturwandel in einer norwegischen Provinz zeugten.

Burkhard Herrmann war fasziniert und sann auf Hilfe für die aufgegebenen Häuser. Beharrlich stritt er für seine Idee einer Begegnungsstätte für Jugendliche unter Berliner Regie. „Es handelt sich um einen Ort, der sich in einer 'Verwertungspause‘ befindet“, heißt es in seinem Konzept, das er gemeinsam mit dem TU-Professor Günther Soukop entworfen hat. „Zwischen der alten Nutzung als Fischerdorf und der zukünftigen als Bildungs- und Begegnungsstätte befindet sich ein sehr offener Raum, innerhalb dessen Gestaltungsmöglichkeiten bestehen, die in der Großstadt völlig verschüttet worden sind.“

Im Februar 1985 bekam er schließlich nach zähen Verhandlungen die Nutzungsgenehmigung von der zuständigen Kommune Öksnes. Im gleichen Sommer fuhr er mit den ersten drei Berliner Jugendgruppen nach Nyksund. Die Häuser waren überwiegend in einem hoffnungslosen Zustand und nicht bewohnbar. Erst heute, nach dem dritten Arbeitssommer, nachdem rund 1.000 Lehrlinge, Studenten (vor allem vom Bereich Umwelttechnik der TU) und Arbeitslose Abwässerleitungen gelegt, Solarduschen gebaut und Fensterrahmen eingesetzt haben, sehen die Organisatoren ein (Polar-)Licht am Horizont. Mittlerweile gibt es ein Versammlungshaus, ein Cafe, ein Gästehaus, Werkstätten und fünf Wohnhäuser. Zu den Arbeitsprogrammen sind inzwischen Kulturaktivitäten für die Umgebung wie das alljährliche Nyksund-Festival und deutsch-norwegische Austauschprogramme hinzugekommen.

Die Internationale Nyksund-Stiftung mit dänischer und norwegischer Beteiligung, die das Dorf seit zwei Jahren verwaltet, bedeutet einen wichtigen Schritt weg von der deutschen Enklave hin zum angestrebten multi-kulturellen Treffpunkt. Im Berliner Büro der Stiftung treffen täglich Anfragen von Jugendgruppen aus ganz Europa ein, sogar aus Portugal. Der ganz große Einstieg wäre jederzeit möglich, wenn die Finanzierung gesichert wäre. „Wir sind die Sache von Anfang an zu idealistisch angegangen“, meint Burkhard. „Heute wissen wir, daß das Projekt nicht überleben wird, wenn wir weiterhin auf Spenden und Freiwilligkeit bauen. Wir brauchen bis Ende des Jahres eine solide, permanente Finanzierung und hoffen dabei auf die Regierung in Oslo.“ Die Teilnehmerbeiträge (860 Mark für drei Wochen), die Zuschüsse der Kommune und Spenden wie die 55.000 Mark von IKEA reichen so gerade für drei bezahlte Stellen. (Neben Hermann eine Sekretärin und ein Hausmeister. Außerdem gibt es einen norwegischen Zivildienstleistenden und zwei ABM -Stellen im Berliner Büro).

Die Kreuzwerker, die Gruppe aus dem Steinberger-Heim in Frohnau und die ein Dutzend Jugendlichen von der Lübecker AWO werden in diesem Sommer in Nyksund dringend gebraucht. Durch viele Dächer der zum Teil über 70 Jahre alten Holzhäuser leckt noch das Wasser. Besonders stark verrottet sind die Kaianlagen, vor deren Betreten Schilder warnen. Weil die Jugendlichen merken, wie sehr ihre Mitarbeit hier vonnöten ist und Fortschritte schnell vermerkt werden können, macht das Schrauben sichtbar Spaß. Die Stimmung ist locker, der Hammer wird selten ohne ein „Paß uff, daß de dich nicht auf die Finger hauen tust“, weitergereicht. „Dazu kommt die Improvisation“, erklärt Günther, der Dachdeckermeister im Kreuzwerk. „Hier ist nichts fertig, auch das Gerüst müssen wir uns aus Lattenresten selbst zusammenzimmern. Dabei lernen die Jungs und Mädels eine Menge.“ Der Programmpunkt „Sinnvolles Lernen und Arbeiten, Entdecken der eigenen Fähigkeiten in naturnaher Umgebung“ im Nyksund-Entwurf scheint sich zu erfüllen. Jedenfalls während der Arbeitszeit. Aber was am Abend, wenn nur noch die „naturnahe Umgebung“ übrigbleibt? Ein Kreuzwerker: „Dann ist tote Hose noch geprahlt.“ Dann ist Nyksund wieder das Fischerdorf, das am äußersten Ende eines felsigen Archipels den Stürmen trotzt, elf Kilometer von der nächsten Ortschaft Myhre entfernt. Dann ist Nyksund wieder das Dorf, das seine Bewohner einst für nur 11.0000 Mark Entschädigung verlassen hatten. Für Mehmet gibt es Augenblicke in Nyksund, da würde er für ein wässriges Bier abhauen. Aber selbst wenn sein Taschengeld ausreichte (es reicht nicht), bekäme er in Myhre keines, weil er noch nicht 18 ist. Das ist die Wahrheit, die Jugendliche und Sozialarbeiter nicht gleichermaßen fasziniert: In 100 Kilometer Umkreis keine Disco, keine Kneipe, kein Kebab. Daß die umliegenden Ortschaften bewohnt und größer sind, bedeutet nicht, daß sie lebendiger sind.

Also versucht man am Abend zu improvisieren, trinkt heimlich vom mitgebrachten Whiskey, ärgert die „Sozis“ beim Doppelkopf-Spiel und versucht aus dem Casettenspieler im Cafe das Letzte herauszuholen. „Das legt sich wieder“, winkt ein Lübecker Junge ab, „die sind erst ein paar Tage hier.“ Er hat schon acht Wochen Nyksund hinter sich, wirkt aber eher ausgeglichen als bestraft. Da sich die Disco-Sehnsucht gelegt und er die Herausforderung einer Felskletterpartie nach Feierabend entdeckt hat, muß er auf Nachfrage erst überlegen, bevor ihm etwas Negatives einfällt: „Die Preise“.

„Alles prima Jugendliche“, versichert der stellvertretetende Bürgermeister von Öksnes. „Es gab ja in der Bevölkerung viel Skepsis. Ihr müßt das verstehen, hier wird schon einer aus Oslo schief angeguckt. Großstadt, das ist für viele hier gleichbedeutend mit Drogen und Kriminaliät.“ Einmal machte die Insulinspritze eines zuckerkranken Jugendlichen Nyksund im Lauffeuer zu einem „Hafen Zoo“. Inzwischen ist das Verhältnis zu den Nyksund -Bewohnern „avslappet“, wie die Norweger sagen. In Myhre wird überall mit Respekt von den jungen Deutschen gesprochen. Fast jeden Tag wird brauchbares und unbrauchbares Spendenmaterial nach Nyksund gefahren, und die Lokalzeitungen machen aus jedem fertigrenovierten Haus einen Aufmacher. Die neuen Nyksund-Bewohner (rund 400 in diesem Sommer) lassen aber auch eine Menge Geld in den Geschäften der Umgebung, deren Infrastruktur, wie 20 Jahre zuvor Nyksund, an schwindenden Fischvorkommen und Landflucht zu leiden hat. Da ist es verständlich, daß die Ratsherren von Öksnes den Fremdenverkehr durch die Attraktion Nyksund gerne ein wenig mehr stimulieren würden, schließlich sei „Nyksund in Europa bekannter als die ganzen Vesteraalen“, wie der Bürgermeister, immer noch ein wenig ungläubig, feststellt. Solche Pläne stoßen bei der Stiftung und Burkhard Herrmann auf wenig Gegenliebe: „Wir konnten gerade verhindern, daß sie uns einen Konsulenten vor die Nase setzten, der die Touristik-Möglichkeiten hier untersuchen sollte. Wir haben jetzt als Kompromiß ein Gästehaus, und wer sich rechtzeitig anmeldet, kann hier wohnen - für 120 Kronen die Nacht, inklusive Mitarbeit und Küchendienst“.

Burkhard wirkt müde und überspannt. Die paar hundert Anträge und Entwürfe, die ungezählten Reisen zwischen Berlin, Oslo und den Vesteraalen und die vielen Rückschläge sind ihm anzusehen. An diesem einen Tage schrieb er einen zehnseitigen Finanzierungsantrag an das norwegische Umweltministerium, feilschte mit einem Kommunalpolitiker um Zuschüsse und fuhr abends um zehn noch zu einem Lehrer, um die Schulen zu mehr Beteilugung zu bewegen. Sollte die Mühe Nyksund am Ende des Jahres eine sichere Finanzierung erbracht haben, muß sich Burkhard entscheiden: Berlin oder Nyksund. Den bisherigen Jahresrhythmus, im Winter in Spandau, im Sommer in Nyksund, ließe sich dann auch organisatorisch nicht durchhalten, weil dann auch Gruppen im Winter kommen sollen. Gerade habe er ein reizvolles Stellenangebot aus Westdeutschland ausgeschlagen, erzählt er und fährt sich durch die Haare. (For ever Nyksund? Es gibt leichtere Entscheidungen.)

Gunnar Köhne (aus Nyksund)