Das Schimmelreiter-Syndrom

■ Der Deichbruch als Reizüberflutung / Die dritten Husumer Filmtage 1988

Sabine Vogel/Helmut Höge

Einem schleswig-holsteinischen Bonmot zufolge soll man an den Brüsten der Friesinnen selbst im Landesinneren noch das Rauschen des Meeres hören, wenn man sich die Warzen an die Ohrmuschel hält. In Husum hat man ihnen auf dem Marktplatz ein Denkmal gesetzt: „Tine“, ist eine junge Friesin in Bronze mit einem Paddel in der Hand - eine Fischersfrau.

Die einzigartige Kulturleistung der küstenbewohnenden Friesen zwischen Holland und Dänemark, liegt aber weder in der Seefahrt noch im Ackerbau, sondern in der Landgewinnung, im Deichbau, mit dem sie seit über 900 Jahren dem Wattenmeer Siedlungsland abringen. „Trutz blanker Hans! Wer nicht deichen will, muß weichen“, heißt ein bis heute gültiger Grundsatz friesischer Existenz (das „Schimmelreiter-Syndrom“ nennt es der Wattenexperte des Bund für Naturschutz).

„Nicht mehr ganz Meer, noch nicht ganz Land, das ist das doppelte Gesicht der Landschaft Wattenmeer“, heißt es im Husumer Heimatmuseum, dem Nissenhaus, vor dem ein Klabautermann in Bronze steht. Der Geschichte der Kultivierung des Saumes zwischen Meer und Marsch ist denn auch eine weite Abteilung von hohem Erlebniswert gewidmet. „Durch die Jahrhunderte hindurch ist die Geschichte des Deichbaus immer wieder belastet gewesen mit dramatisch verlaufenen Deichschließungen - der Geburtsstunde eines neuen Koogs.“ Die friesische Landgewinnungspraxis hat über die Jahrhunderte hinweg eigene Begriffe geprägt. „Schöpfwerke“ der Deichgeschichte sind die Regulationssysteme, die Schleusen zwischen Kultur und Natur. Mit einem solchen wurde „zum ersten Mal, 1955, beim Deichschluß des Lübke-Koogs nacktes Watt mit Erfolg in landschaftliche Kultur genommen.“ Bei der Eroberung der nackten Watten spielt der „Wattenpionier-Queller'“, eine Art Salzgras, eine bedeutende Rolle. Die „Schotten im Deichkern

-unsichtbare Dokumente der Deichgeschichte“ sind unter „Faschinen“ (Buschmatten) und der (bei „örtlicher Gefährdung durch Wellenschlag mit Schadwirkung“ nötigen) „Bestickung“ mit Reet/Stroh befestigt. Neuerdings gilt: „Wenn das Watt einen ausreichend hohen Schlick-Ton-Gehalt besitzt, kann es nach jüngsten Erkenntnissen eingedeicht werden, bevor es biogen (durch Salzpflanzen) verlandet; der über 900 Jahre praktizierte Grundsatz von der Deichreife hat damit für Schlickwatten seine Bedeutung verloren!“

Der an der Düsseldorfer Kunstakademie lehrende Maler Raimer Jochims erzählt (im letzten Kunstforum): „Die Schlickbildung ist schon in meiner Kindheit ein unmittelbares Erlebnis gewesen: das schwarze formlose Chaos, mit dem chaotischen Hintergrund der Sturmfluten und Deichbrüche, also die Doppelqualität des Aufbauens und Zerstörens der Elemente. Das Land, das hier gewonnen wird, ist rechtwinklig strukturiert, alles ist flach, die einzige Vertikale ist der Mensch. Das ist eine Landschaftserfahrung, die durch die Horizontale geprägt ist und durch die Elemente des Feuchten und Chaotischen.“

Nach wie vor gibt es aber auch die Institution des Deichgrafen und Oberdeichgrafen, der heute zumeist die rechte Hand des meist konservativen Landrats ist. Anfänglich baute man die Deiche mit steilen Wänden „wie Festungen“. Der Deichgraf Hauke Haien setzte gegen den Willen der am Deichbau beteiligten Bauern die moderne Bauweise durch, die den Angriff der Wellen nicht parierte, sondern sanft ausrollen ließ. Während Hauke Haien als Held in Storms „Schimmelreiter„-Novelle an Aberglauben und Fortschrittsfeindlichkeit scheiterte, ist heute ein wichtiger Koog nach ihm benannt. In der Schimmelreiter -Verfilmung des DDR-Regisseurs Klaus Gendries von 1984 wird die Sturheit des gebildeten Deichgrafen Haien, die ihn daran hinderte, Verbündete zu gewinnen, als Grund seines Strandens kritisch beleuchtet.

Nach wie vor begibt man sich bei Sturmflut auf den Deich, um etwaige „Schwachstellen“ rechtzeitig auszumachen und gegebenenfalls das Vieh im Koog dahinter in Sicherheit bringen zu können. „Hier stand ich oft, wenn in Novembernacht,/Aufgor das Meer zu gischtbetäubten Hügeln,/Wenn in den Lüften war der Sturm erwacht,/Die Deiche peitschend mit den Geisterflügeln“, reimte der nun gerade 100 Jahre tote Theodor Storm in seinem Gedicht „Ostern“. In den Storm-Verfilmungen, vornehmlich aus der DDR, die den Schwerpunkt der diesjährigen Husumer Filmtage bildeten, geht man auch bei ruhiger See auf den Deich - wenn man innerlich aufgewühlt ist - und blickt stumm über das meist graue Meer. Anders als zur etwa gleichen Zeit die Leute in Wien, die sich hysterisch auf der Couch wälzten und verbalisierten.

Wenn, nach Barthes, das Kino die Couch der Armen ist, dann ist für die Friesen vielleicht der Deich die Couch - und der Deich im (DDR-)Fernsehen das Sublimierungsmodell für ein Stormsches Aufbegehren gegen den aufgeklärten Absolutismus. „Wo blanker Hans war, soll Koog werden!“

„Am grauen Strand, am grauen Meer“ ebenfalls von Gendries und seinem Szenisten Gerhardt Rentzsch, DDR-TV 1980, nach der Storm-Novelle „Hans und Heinz Kirch“ wird mit C.D.Friedrich nachempfundenen Landschaftsmelancholien in Grau und gedämpftem Rotgold das „Schicksalhafte, das bei Storm nicht ganz so definiert wird, näher ins gesellschaftliche Umfeld geschoben. Sozialökonomische Tatbestände sind eingeflochten“ (Programmheft), das heißt die fatalistischen Patriarchalstrukturen erscheinen psychologisch angemenschelt.

In Wolfgang Hübners Verfilmung „Es steht der Wald so schweigend“, 1985, wird vorsichtig ökologische Kritik am Umgang der DDR mit ihren letzten Naturreserven und den Neurosen ihrer Bewohner geübt. Storms zugrundeliegende Novelle „Schweigen“ entstand im Heiligenstädter Exil (der Husumer Rechtsanwalt und Landvogt hatte 1852 gegen die dänische Herrschaft opponiert), und thematisiert das Eheproblem eines Försters, den die Umwandlung „eines letzten Stücks Naturwaldes“ in Kulturlandschaft seelisch verwirrt hat. „Er wirkt zuweilen weibisch, Herr Deichgraf“ bemerkt die knitterne Deichgräfin spitzmäulig, aber treffend. Die romantischen Environments stehen für die Trauer des Neuen Sensiblen über eine zerstörte Lebensheile. Und im Schlußsatz droht gar „die Versetzung in den Staatsdienst“ mit subversivem Zwinkern.

Um eine radikale ökologische Kritik geht es dem schleswig -holsteinisch-berlinischen Rainer Boldt in seinem Film Im Zeichen des Kreuzes“ (1982 im Auftrag der ARD produziert, aber nicht ARD-weit gesendet): Durch den Unfall eines Atommüll-Transporters kommt es zur Kontamination mehrerer Dörfer und der staatliche Katastrophenschutz versucht, die verstrahlte Region militärisch einzudeichen, statt den verseuchten Menschen Hilfe zu leisten. Ein „Nuclear -Thriller“ als Kritik am „Prinzip Deichschluß“ im Fall einer Strahlenflut?

Im Stummfilm von 1924, unter Anwesenheit der lokalen Prominenz mit live Klavierbegleitung vorgeführt, tobt der Bruderkampf um die Erbfolge der Chronik von Grieshuus, einem nordgermanischen Landsitz in modisch organischer Kulissenarchitektur (die Babelsberger Studios biegen sich expressionistisch vor unseliger Liebe und qualvoller Sühne). Dazu dichtete Storm „Für meine Söhne“: „Was immer du kannst, zu werden,/Arbeit scheue nicht und Wachen;/Aber hüte deine Seele/Vor dem Karriere machen.“

Eine Katastrophe größeren Ausmaßes ist Ausgangspunkt in Rudolf Jugerts 1948 gedrehten Film ohne Titel, der die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs in der Grunewald-Villa eines Antiquitätenhändlers schildert. Als die schließlich ausgebombt wird, macht sich der Hausherr auf nach Westen, wo er im friesischen Bauernhaus seiner ehemaligen Hausgehilfin einläuft, sich als Knecht verdingt, sie heiratet und Tischler wird. Daß dabei „auf dem traurigen Hintergrund dieser Zeit“ eher eine Komödie als eine Katastrophe verhandelt wird, ist nicht der zentralen Geschichte oder ihren Darstellern (Hans Söhnker, Hildegard Knef, Willy Fritsch und Helmut Käutner/auch Buch) zu verdanken, sondern der Rahmenhandlung. Die besteht in einem sonnig selbstironischen Filmteam, „in einer ebenso befreienden wie orientierungslosen Nachkriegs-Situation, auf dem Punkt stehend, wo man es sich leistet, in den Startlöchern herumzufaulenzen, Perspektiven entwerfend und wieder verwerfend, die eigene Ziellosigkeit genießend, ehe dann wieder der alte Ernst und die neue Zielbewußtheit überhand gewinnen und man entschlossen Tritt faßt“. Ein Film aus dem glücklichen Zeitraum zwischen den Katastrophen. Der Regisseur Jugert kreierte in den Fünfzigern das Genre des westdeutschen Arztfilms.

Anders als bei den üblichen Filmfestivals wurden in Husum täglich nur zwei (am Sonntag drei) Vorstellungen gegeben. So bekam man gezwungenermaßen viel von Husum und Umgebung mit: Deich-Kino-Teestube - Hafen-Kino-Braukeller. Watt, Fußgängerzone, Schloßpark. Stormcafe, Museum, Piets Frittenkajüte. Die Intervalle zwischen den Filmen sind ebenso lang wie sie selbst, etwas über 90 Minuten. Die Geschwindigkeit verhusumert sich.

Ein Ausflug zur zehn Kilometer entfernten Insel „Nordstrand“. In der „Nordstrander Bucht“ befindet sich die derzeit umfangreichste friesische Küstenschutz-Maßnahme: der Beltrigharderkoog. Auch eine Katastrophe. „Der Grund liegt darin, daß man im Süden begonnen hat, den Generalplan Küstenschutz, der nach der schweren Sturmflut 1962 aufgestellt worden war, zu realisieren. Deswegen waren wir hier im Norden die letzten, und inzwischen haben sich die politischen Zustände geändert“, so der Ingenieur des Küsten -Bauabschnitts C. Michael Mäurer vom BUND für Naturschutz. „Zehn Jahre wurde gegen diese Eindeichung gekämpft. Das hat viele Leute verschlissen und Feindschaften entstehen lassen. Auch unter den Naturschützern gab es Kompromißbereite. Am Anfang ging es noch um eine große Lösung: ein Deich vom Hauke-Haien-Koog bis zu den Halligen. Aber auch die kleine Lösung jetzt, die Eindeichung der Nordstrander Bucht zerstört immer noch 3.400 Hektar Naturlandschaft, die in Kunstlandschaft verwandelt werden. Nun müssen wir erstmal sehen, was daraus wird. In der Zwischenzeit wird man über die Problematik Küstenschutz neu nachdenken müssen.“

Der gigantischen Baustelle siehtman schon von weitem an, daß hier ein absurder Kompromiß entsteht: die martialisch eingedeichte „kleine Lösung“ wird nicht etwa landwirtschaftlich genutzt werden, das wäre bei der derzeitigen Agrar-Überproduktion nicht sinnvoll, man wird dort statt dessen Süß- und Salzwasserbiotope anlegen. Die Dame vom Informationspavillon berichtet stolz, daß sich im südlichen Abschnitt schon vier Seehunde tummeln. Mit dem Salzwasser-Naturreservat soll das Wattenmeer „nachempfunden“, mittels Sielen und Pumpen sogar eine Gezeitenbewegung im Biotop simuliert werden. Diese vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Ausgleichsmaßnahmen werden von den Planern als „Paradies aus Menschenhand“ gepriesen.

Viele Touristen schreiben allerdings wütende Briefe an die 'Husumer Nachrichten‘ und fragen, was dieser ganze Quatsch soll. Zwar hatte es schon 500.000 Protest-Unterschriften gegen die Sicherungsmaßnahme Nordstrander Bucht gegeben, ein Hearing und eine Einstweilige Verfügung des Verwaltungsgerichts Lüneburg, die einen vorübergehenden Baustopp bewirkte. Ein Lehrer aus Nordstrandischmoor hatte eine bedrohliche Erhöhung der Flut für die Halligen aufgrund des neuen Deiches befürchtet. Seit Deichschluß geben ihm einige ältere Halligbewohner recht. Ein Redakteur der Husumer Nachrichten: „Wir haben das mal geprüft, das ist alles gelenkt worden.“ Von wem oder was, will er nicht sagen. Er räumt aber ein, daß das Projekt Nordstrander Bucht die „große Zäsur in der Deichbaugeschichte ist: der Rubikon ist überschritten.“

11O Millionen Mark wird der umstrittene „Puffer zwischen Meer und Siedlungsland“ kosten und den naturhungrigen Urlauber abschrecken. Zwar verhandeln derzeit der BUND und der World Wildlife Fund, Geschäftstelle Husum, mit den Anliegergemeinden über die Nutzung der Bucht für den „sanften Tourismus“, aber attraktiver wird das „Ingenierbauwerk“ auch durch zwei Badestellen an den Sielen und einem Surfer-Treffpunkt „Fanatic“ nicht. Dennoch signalisiert dieser Versuch, neuen Ökowein in alte Schleusen zu gießen, ein Umdenken. Als Beispiele für kulturelle Küstenbefrachtung könnten das schleswig-holsteinische Musikfestival, die Husumer Filmtage oder auch die zwei von Naturschützern angebotenen mehrtägigen Wattenbildungs-Turns genannt werden („Die Teilnehmer sind unfallversichert“).

Die Filmtage fanden im Kino-Center des Mitorganisators und Husumer Kinomonopolisten Hartung statt. In seinen Kinos darf man rauchen und auf Schalterdruck werden einem Kaffee und Erfrischungsgetränke auch während der Vorstellung serviert. Unter den vornehmlich jüngeren Husumern hat dies bereits eine Veränderung der wenn nicht Seh-, so doch Kinogewohnheiten bewirkt: man trifft sich bereits eine Stunde vor Filmbeginn im Vorführsaal. Das Wohnzimmer hat hier zum Film gefunden. Eigentlich hatte man für die Besucher der Filmtage einen „Stammtisch im historischen Braukeller im Schloßgang“ reserviert, aber weil die drei Kinos „Tahiti“, „Clou“ und „Oldie“ (der große Saal, in dem Crocodile Dundee gezeigt wurde - bei Publikumsrennern wie Schimmelreiter wurde allerdings gewechselt) je mit einer Bar gerüstet waren, blieb der harte Festivalkern samt Presse ('Husumer Nachrichten‘ und taz) gleich im Vorraum des Kino-Centers, locker um die DDR-Delegation gruppiert, und der Kinobesitzer gab eine Runde nach der anderen aus. Besonders nach der Special Night mit Lotti Huber und zwei Praunheim-Filmen war der Damm gebrochen, oder mit den Worten der geborenen Schleswig-Holsteinerin Huber: „If I can make it here, I can make it anywhere, wie jetzt in Husum!“

Im Gegensatz zu den übrigen vier cinematographischen Mitorganisatoren der Filmtage beurteilte Kinobetreiber und Gastgeber Hartung die derzeitige Entwicklung auf dem Filmmarkt positiv: „Je mehr TV-Verkabelungen und Video -Verleihe es gibt, desto weniger schlechte Filme muß ich zeigen.“ Zu den nächsten Filmtagen will er noch zwei weitere Kinos anbauen mit einem größeren Foyer, „wo man gemütlicher zusammensitzen kann“. Die Verlandung geht ihren Gang. „So reiht sich Spatenstich an Spatenstich als Ausdruck eines großen und beständigen Fleißes der Küstenbewohner!„(Leitsatz im Nissen-Museum Husum zur „Landgewinnung“)