Albert albert

■ „Nichts zu verlieren“ von Serge Roon in Osnabrück uraufgeführt

Das Leben ist lang, sagt Mutter und lebt mit Vater in einem großen braunen Schrank. Aus dem Schrank fällt das Kind schwarzer Anzug, weißes Hemd, Nabelschnur -, ihm nach eine Fuhre Wasser aus einem roten Spielzeugeimer. Albert, sagt Vater. Albert strampelt. Gerührt stehen die Eltern in der Schranktür, Vater in schwarzen Stiefeln, Mutter mit roten Nägeln. Man ahnt: der Junge wird es schwer haben.

Dabei machen alle einen so netten Eindruck: Man lacht oder tanzt oder sitzt still unter der Lampe im Schrank und erzählt Albert ein Märchen. Wie überall will man auch hier nur das Beste. Die Freundin ist freundlich, der Vater väterlich und selbst der Mann vom Schlüsseldienst tut, was Albert möchte: Dienstfertig sperrt er ihn für gutes Geld im Schrank ein und wirft den Schlüssel weg.

Warum also zählt Albert am Ende - nachdem er wider Erwarten dem Tod im Schrank noch einmal mit Hilfe einer kleinen Säge entkommen ist - bis sieben und springt aus dem Fenster?

Nichts zu verlieren, das zweite Stück von Serge Roon (Er starb dann auch an einem Montag war 1981 an der Berliner Vagantenbühne zu sehen), das am vergangenen Samstag in seiner eigenen Regie in Osnabrück uraufgeführt wurde, hält sich mit allzu griffigen Erklärungsangeboten wohltuend zurück. Sicher: Albert (bzw. der sehr nuanciert spielende Helmut Thiele) hat keine Arbeit, kommt enttäuscht aus blaßgrünen Ämtern (deren Farbgebung ihm den Gesichtern der Bittsteller nachempfunden zu sein scheint), schafft vergeblich mit kräftigen Hammerschlägen Einlaß in der Zimmerwand für nie erscheinende Behördenvertreter und ihre Entschuldigungsschreiben, macht sich in die Hose und wird vom Vater an einen Nagel gehängt.

Albert die Kinderseele auf dem Arbeitsmarkt. Albert der traurige Kaspar, der auf seinem Schemelchen stehend, eine Rede an seine lackgelbe Badeente hält. Albert der Hyde-Park -Redner, der mit Schirm und Melone über den ansteigenden Verkauf von Heftpflastern sinniert. Albert, der dem versammelten Schrankpublikum einen Fenstersturz vorführt.

Das heißt aber nicht: Albert der casus sociologicus (bzw. psychoanalyticus), Albert, der offene Mensch und seine Feinde, Albert das Künsterschicksal in arbeitsloser Zeit. Heißt es nicht, und heißt es natürlich auch.

Daß solch einfache Rechnungen dennoch nicht aufgehen, liegt an der Poesie und dem ungewohnten Eigensinn des Textes. In den ingesamt fast 30 Einzelszenen, die in ihrer schnellen, tableau-artigen Aufeinanderfolge den bizarren Charme der Textvorlage wiederaufnehmen und verstärken, läßt sich Albert der Poetiker, der Tragik-Komiker und Albert der Arbeitsamt -Geschädigte für keine Rolle ganz verpflichten.

Was ihm bleibt? Seine Suppe, die er am Ende trotz allem ganz alleine auslöffelt. Und uns? Ein sehr ernst alberner Albert, ein eindrucksvoll theaterndes Theater.

Iris Radisch