Umsturz in München

■ Eine literarische Montage von Herbert Kapfer und Carl-Ludwig Reichert über die Münchner Räterepublik

Wally, an Schweinshaxn‘, rief ein beleibter rundgesichtiger Herr der Kellnerin zu. Dort aß einer, dort spielten sie Tarock wie immer. Niemand kümmerte sich um uns. 'Wally, an Schweinshaxn‘, dies schien hier die einzige Situation zu sein.“ So beschreibt der bekannte bayerische Schriftsteller Oskar Maria Graf eine Szene im Münchner Franziskanerkeller am 7.November 1918. Dort war er aufgeregt nach der Kundgebung auf der Theresienwiese eingekehrt. Kurt Eisner hatte gerade den „Freistaat Bayern“ ausgerufen.

Die Erfahrung, daß es nicht eine Wirklichkeit für alle gibt, wird von Oskar Maria Graf in dieser kurzen Sequenz einmal mehr belegt. Für die bayerische Schweinshaxnfraktion hat der Umsturz in München, so der Titel des Buches von Herbert Kapfer und Carl-Ludwig Reichert, in dem auch diese Textpassage von Graf abgedruckt ist, ganz andere Facetten gehabt als für die revolutionären Anhänger der Arbeiter- und Soldatenräte. Obwohl die Autoren nicht von sich behaupten, die Frage nach einer so komplexen Angelegenheit wie der historischen Wahrheit zu beantworten, leisten sie einen erheblichen Beitrag zu einem neuen, äußerst genauen Bild jener Zeit, die je nach Standpunkt als „Frühling der Anarchie“ oder „Schwabinger Schlawinerei“ beschrieben wurde. Es geht ihnen um „einen, nämlich ihren historischen Roman“. Im Vorwort zitieren Kapfer und Reichert dazu Arno Schmidt: „Vielleicht, daß man der einseitigen Betrachtungsweise eines historischen Roman-Schreibers, durch die Einseitigkeit eines anderen begegnen könnte.“

Deshalb begaben sich die Autoren auf die Suche nach entlegenen Texten und vergessenen Schriftstellern, die neben Graf, Toller und Mühsam diese Zeit beschrieben haben. Ohne Kommentare oder Zwischentexte haben Kapfer und Reichert Textteile aus etwa vierzig Romamen und Novellen chronologisch zu einem „neuen Roman“ montiert. Der dabei entstandene literarische Sampler liest sich höchst spannend, auch oder gerade deshalb, weil man dabei immer wieder über Passagen der „Gegenseite“, dem teilweise schon sehr früh antisemitisch gestimmten Bürgertum, stolpert. Als erster literarischer Text zu den Münchner Revolutionsereignissen erschien, noch ganz frisch von den Ereignissen geprägt, im Jahr 1919 Amelie von Godins Räte-Roman Unser Bruder Kain: „Der Proletarierjunge stiefelte pfeifend, beide Hände tief in den Taschen seiner zerschlissenen, speckigen Hose, über den Kies auf dem freien Platz hinter dem Haus. Er ging so, als gehörten Haus und Garten ihm. Ferdinand lachte: 'Dem haben sie die Ohren mit 'Eigentum ist Diebstahl‘ und dem Recht des Proletariats gefüttert.‘ Wie er so dastand, ins Kreuz geworfen, schlaublöd lächelnd, wußten die, die ihn anschauten, das war der Feind. Dies Kind, solche Kinder waren die Brut des Umsturzes, genährt von Haß, voll von frecher, bedenkenloser Entschlossenheit, sich den Weg über den ehedem Herrschenden zu bahnen.“

Neben Amelie von Godins Roman präsentiert Umsturz in München eine ganze Reihe längst vergessener Texte, die seinerzeit unter Titeln wie Der umgestürzte Huber. Bilder aus der bairischen Weltrevolution, Die roten Tage, Die rote Flut, Der rote Föhn oder Das große Chaos erschienen. Die Autoren heißen u.a. Julius Kreis, Friedrich Freska, Wilhlem Weigand und Wilhelm von Schramm. Humorvoll, ohne Bitternis schildert der revolutionäre Matrose und spätere Vagabundenschriftsteller Albert Daudistel das Erlebnis seines Gefangenentransports nach der Niederschlagung der Räterepubklik und der Aburteilung durch die bayrische Justiz: „Los, erzählt! Was hast du ausgefressen? Nichts! Du, du? Alle unschuldig? Die verflixten Staatsanwälte. Könnt ihr nicht singen? Die Öffentlichkeit spricht neidig von der Intelligenz im Gefängnis und Zuchthaus.“

In voller Gegensätzlichkeit sind die Textteile des Umsturz in München montiert - von den Vorläufen und Anfängen der Räterepublik bis hin zum ersten Auftreten Hitlers, unterteilt in drei Abschnitte, betitelt mit „Chaos“, „Föhn“ und „Justiz“. Ein biographischer und bibliographischer Anhang gibt Auskunft über Autoren und Werk. Der dritte und letzte Teil beginnt mit der Formel „Grüß Gott, Herr Hitler“. Es ist der Anfang des Romans, der unter dem Titel Der Don Quijotte aus München 1934 in einem Amsterdamer Exilverlag veröffentlicht wurde. Der Autor verbirgt sich hinter dem Pseudonym Frateco. Das Pseudonym ist bisher nicht aufgeschlüssel worden.

Bitter liest sich dieser letzte Teil von Umsturz in München. Er dokumentiert eingehend die Schikanen der rachsüchtigen bayrischen Justiz. Hier sind Texte aus Ernst Tollers Justiz montiert, solche übrigens, die in den Gesammelten Werken Tollers fehlen. Toller, der nach mehreren Jahren Haft in Niederschönenfeld von den bayrischen Behörden widerrechtlich aus Bayern ausgewiesen wurde, beschrieb seine Ausweisung so: „Ich packe meine Sachen, die Herren Kriminalbeamten nehmen mich in die Mitte, das Gefängnistor öffnet sich, ich atme die Luft des unvergitterten Himmels. (...) Auf dem Bahnsteig schreite ich eine Ehrenkompanie schwerbewaffneter Gendarmen ab. Warum soviel Ehre, fragte ich die Kriminalbeamten. - Ein Attentat auf Sie war geplant, antworten die Herren, die bayerische Regierung weiß, was sie Ihnen schuldig ist, wir sind ein Ordnungsland, fahren Sie mit Gott und behalten Sie unser liebes Bayernland in freundlicher Einnerung.“

Die Oberen in diesem Freistaat dürften sich heute ebenfalls nicht gern an die Anfänge des Freistaats erinnern, schon weil er mit einer Revolution, angeführt von rebellischen Bauernführern, revolutionären Matrosen und jüdischen Literaten, ins Leben gerufen wurde. Der reaktionären Bayerntümelei zum Trotz ist dieses Buch vom Münchner Weismann Verlag in den Farben Weiß und Blau aufgemacht.

Luitgard Koch

Herbert Kapfer/Carl-Ludwig Reichert: Umsturz in München. Schriftsteller erzählen die Räterepublik, München 1988, Weismann Verlag, 260 Seiten, gebunden, 33 Mark