Sprengel: Das Ende einer zarten Versuchung?

Den ehemaligen Besetzern der hannoverschen Sprengel-Fabrik wurde schon nach zehn Wochen wieder gekündigt / SPD: „Die sind nicht auszuhalten“ / Jugendliche Bewohner bekommen kaum Solidarität / Ist die Kündigung rechtswirksam?  ■  Aus Hannover Axel Kintzinger

Hinrich Lehmann-Grube kann nicht schauspielern. Wenn der hannoversche Oberstadtdirektor sagt: „Ich bin sehr enttäuscht“, dann macht er einen triumphierenden Eindruck. Ende vergangener Woche hat der Sozialdemokrat eine einsame Entscheidung getroffen, die politische Rückendekkung dafür holte er sich Dienstag abend in der SPD-Fraktion des Stadtparlamentes von Hannover. Von 28 Abgeordneten waren nur zwei der Meinung, daß das Projekt Sprengel-Fabrik noch nicht für gescheitert zu erklären ist, eine Kündigung des Leihvertrages daher noch nicht an die 48 Bewohner verschickt werden sollte.

Auf den Leihvertrag ist Lehmann-Grube besonders stolz: „Meine Erfindung“, sagt er, und seine Augen blitzen dabei. Nicht vermietet, sondern nur geliehen habe die Stadt den paar Dutzend meist jugendlichen Besetzern ein Gebäude auf dem Gelände der ehemaligen Schokoladenfabrik Sprengel in der Nordstadt, dem bunten und lebendigen Universitätsviertel Hannovers. Das war am siebten Juli dieses Jahres, ziemlich genau ein Jahr nach der Besetzung der seit langem leerstehenden Gebäude. Jetzt, zehn Wochen später, sagt Lehmann-Grube: „Die sind nicht mehr auszuhalten.“ „Die“, das sind die Bewohner und alle Gäste auf dem Gelände, „nicht mehr auszuhalten“ sei der Krach, seien Farbschmierereien an Nachbarhäusern und Straftaten in der Nordstadt.

Lehmann-Grube hat alles auflisten lassen, zehn engbeschriebene Seiten mit „Maßnahmen und Vorkommnissen“ hat er dem Kündigungsschreiben, das er als Muster an Journalisten verteilt, beigeheftet. Am Ende steht in schlechtem Deutsch: „Seit Juli 1988 mehr als 150 Ermittlungsvorgänge von Straftaten.“ Wer die Straftaten Sprühereien, Farbeierwürfe, Behinderung von Bauarbeitern begangen hat, ist auch ohne gerichtsverwertbare Erkenntnisse klar für Lehmann-Grube - und nicht nur für ihn. Die grün -alternative Bürgerliste (GABL) mit fünf Abgeordneten im Stadtrat vertreten, hat es aufgegeben, vermitteln zu wollen. „Da passiert einfach zuviel Scheiße“, seufzt eine, die den Ärger einiger Anwohner „gut verstehen“ kann. Chaotisch, unorganisiert und teilweise durchgeknallt, wie die Sprengel -Leute nun mal agieren, bereiten sie auch den Autonomen Kopfzerbrechen. „Die sind kein revolutionäres Subjekt“, lästert einer über seine Genossen. Ob ein richtiger Mietvertrag, der mit Rechtssicherheit Perspektiven für die Bewohner geboten hätte, nicht sinnvoller gewesen wäre? Etwas mehr Zeit hätte man den Leuten geben sollen, meinte die GABL, als permanente Polizeieinsätze auch wegen Nichtigkeiten immer wieder dokumentierten, wie unsicher die Situation der Bewohner ist. Heute meint die GABL gar nichts mehr.

Die ohnehin angespannte Situation verschärfte sich, nachdem Bauarbeiter unter Polizeischutz am ersten August Teile der Gebäude abrissen. Der neben der ehemaligen „Kofferfabrik“, wo die Ex-Besetzer wohnen, gelegene Sozialtrakt sollte ein Zentrum werden - Frauencafe, Kino, Handwerks- und Videogruppen waren Verträge in Aussicht gestellt worden. Das Gebäude wurde von der Stadt verrammelt, was für zukünftige Nutzer wie für benachbarte Sprengel-Bewohner einen Vertragsbruch bedeutete. Steine flogen, und Teile der Lokalpresse witterten eine hannoversche Hafenstraße. Die Stimmung schlug um, das Wort Räumung geisterte wieder durch die Öffentlichkeit. „Von diesem Tag an“, berichtet eine Sprengel-Frau, „stieg der Alkoholkonsum wieder stärker.“ Bewohner, die sich lieber an die Herrichtung der Gebäude machen wollten, mußten in unendlichen Plenumsdebatten wieder Strategien gegen die Räumung diskutieren. Wie ein Magnet zieht das Sprengel-Gelände in solch angespannten Situationen jugendliche Punks und durchgeknallte Existenzen an, die das Chaos komplettieren. Die Bewohner solidarisieren sich fast zwangsweise mit jedem, der „Sprengel bleibt“ oder ähnliches brüllt. Einige, die ohne Anlaß Passanten mit Krampen beschossen hatten, werden zur Rede gestellt. Als Grund für das von einigen als „katastrophal“ empfundene Verhalten geben sie an: „Wut, nur Wut.“ Die Reaktion der Anderen: Achselzucken.

In Hannover findet man derzeit wohl nur zwei Personen, die das bunte Völkchen trotz seiner Macken mag. Der eine ist Dieter Uetzmann, der sich als Anwaltsplaner um die Stadtteilentwicklung dieses Viertels kümmert. Der andere ist Dirk Hinterthür, der die Bewohner jetzt bei ihren Klagen gegen die Kündigung vertritt. „Mit einigen hatte ich früher schon zu tun“, erzählt Hinterthür, „da waren die kaputt, nur destruktiv.“ Auf dem Gelände hätten sie sich „toll entwickelt“, es mache „Spaß zu betrachten, mit welcher Hingabe die sich daran machen, die heruntergekommenen Gebäude mit Wasserleitung und anderem zu versehen“, also bewohnbar zu machen. Hinterthür hat für seine Arbeit „bisher noch keine Mark“ gesehen. Der Mietrechtsspezialist bat andere linke Anwälte, die sich als Strafverteidiger auf lokaler Ebene einen Namen gemacht haben, ihm ein wenig von der Arbeit abzunehmen. Sie winkten ab.

Dennoch sieht er gute Chancen, die Kündigung abzuwehren. „Dieser Leihvertrag ist ein Mietvertrag“, argumentiert er und hofft auf Richter, die sich unbeeindruckt vom öffentlichen Getöse an die Buchstaben des Gesetzes halten und einen Einzelnachweis bei Straftaten fordern.

Auch Lehmann-Grube weiß, wie schwer das ist. Darum macht er auch keinen Hehl daraus, die ungeliebten Sprengel-Leute vor Ablauf des langen Rechtsweges räumen zu können. Der nächste Zwischenfall soll dafür herhalten, nach dem Sicherheits- und Ordnungsgesetz (SOG) zu räumen, gibt er unumwunden zu. Die Polizei zeigt schon Muskeln, postiert sich vor dem Gelände, beleuchtet es und fährt mit Mannschaftswagen im Minutenabstand Streife - eine in dieser angespannten Situation kaum verhohlene Provokation. Der erste Flaschenwurf, wissen die um Ruhe bemühten Bewohner, könnte das Ende bedeuten.