Rote Armee zwingt Armenier zur Ruhe

■ Mit dem Einsatz von Militär in Berg-Karabach und Eriwan will die sowjetische Führung Zeit gewinnen

Seit Donnerstag abend herrscht in der sowjetischen Republik Armenien explosive Ruhe. Die Schützenpanzer der Armee vor Augen entschieden sich die vor dem Opernhaus in Eriwan Versammelten, die nächste Sitzung ihres armenischen Obersten Sowjets abzuwarten, bevor sie durch weitere Aktionen der Forderung nach Anschluß von Berg-Karabach an Armenien weiter Nachdruck verleihen wollen. Über die Situation in Berg -Karabach selbst gibt es keine aktuellen Informationen. Niemand weiß'ob es den Militärs auch dort gelungen ist, die Streiks zu brechen und vorläufig Ruhe herzustellen.

Für die „Sicherheitskräfte“ gab es nichts zu tun, meldeten die sowjetischen Agenturen am Freitag mittag erleichtert. Es blieb ruhig in Eriwan, als sich am Donnerstag abend die 200.000 Menschen auf dem Opernplatz versammelten. Sechs Personen sind in den Hungerstreik getreten. Wie schon am Vormittag, als sich ebenfalls Hunderttausende auf dem Platz eingefunden hatten, blieben die Schützenpanzer und die Raupenfahrzeuge der Infanterie zwar gut sichtbar vor den öffentlichen Gebäuden postiert, die Einsatzleitung verzichtete jedoch auf Provokationen. Denn das hat sich wohl jetzt auch nach Moskau herumgesprochen: es braucht nur noch einen Funken bis zur Explosion.

Die Geduld der armenischen Nationalbewegung, sich mit ihren Forderungen im Rahmen der sowjetischen Gesetze und Institutionen Gehör zu verschaffen, wird arg strapaziert. In der seit den Massakern von Sumgait immer wieder vorgetragenen Forderung an die Moskauer Adresse, doch endlich die Interessen der Armenier in der aserbeidjanischen autonomen Provinz Berg-Karabach ernsthaft aufzugreifen und nach einer Lösung für die Probleme zu suchen, ist gerade in den letzten Tagen wieder abgelehnt worden. Denn für die Armenier ist klar: wieder einmal wurden die Armenier in Berg -Karabach vonAserbeidjanern angegriffen und dabei von den sowjetischen Ordnungskräften gedeckt. So ist es nicht verwunderlich, daß manche Heißsporne in Eriwan von der Loslösung Armeniens aus der Sowjetunion träumen. Nach der Verfassung von 1977 ist die Sezession einer Republik auch möglich. Politisch jedoch brächte die Forderung die Sowjetunion in eine innenpolitische Zerreißprobe, deren Folgen nicht abzusehen sind.

Angesichts dieser Situation hat die Versammlung am Donnerstagabend darauf verzichtet, eine Volksabstimmung über die Sezession zu verlangen. Jetzt wird ersteinmal wieder abgewartet. Der Oberste Sowjet der Republik Armenien soll nun entscheiden, wie es mit Berg-Karabach weitergeht. 150 der 340 Abgeordneten sprachen sich nach Angaben armenischer Bürgerrechtler für eine Sondersitzung aus. Der Oberste Sowjet, so der Wunsch der Volksversammlung, soll seine Entscheidung vom Juli revidieren, als er den Moskauer Wünschen gemäß die Forderung nach einem Anschluß von Berg -Karabach an Armenien abgelehnt wurde. Der Kniefall vor der Moskauer Politik hat die armenische Partei in eine Zerreißprobe geführt. Und sie hat ihre Führung in der Bevölkerung weiter unglaubwürdig gemacht. Vieles spricht dafür, daß dem Karabach-Komitee, der Gruppe von armenischen Intellektuellen und anderen „Volksvertretern“ seither noch mehr Autorität zugewachsen ist.

Doch diese Autorität bleibt machtlos angesichts der Verhältnisse in Berg-Karabach selbst. Mit Unverständnis und Verbitterung wird in Eriwan das Verhalten des Militärs kommentiert. In Armenien ist klar, daß die Ausschreitungen in Schuscha vom Militär geduldet wurden. Wie ist es auch zu erklären, daß in dieser mehrheitlich von Aserbeidjanern bewohnten, zweitgrößten Stadt Berg-Karabachs am Mittwoch die Häuser der Armenier in Brand gesteckt werden konnten? Nach Angaben des armenischen Aktivisten Gregorianz gingen die in Karabach eingesetzten Truppen sogar gegen die armenische Bevölkerung vor, und die über das Gebiet verhängte nächtliche Ausgangssperre gelte vorwiegend für Armenier.

Nach einem Sprecher des sowjetischen Außenministeriums wurde die Region einem aus Moskau entsandten Militärkommandanten unterstellt. Er habe unverzüglich Demonstrationen, Aufmärsche und Kundgebungen in den Unruheregionen verboten. Außerdem habe er Streiks in allen Bereichen untersagt. In den Wohnungen dürften keinerlei Waffen aufbewahrt werden und selbst Autos dürften nachts ohne Spezialgenehmigung nicht mehr gefahren werden. Alle Befehle des Kommandanten würden von Radio und Fernsehen übertragen und seien bindend für die Bürger und örtlichen Behörden.

Ob die Streiks der Armenier in Berg-Karabach durch das Militär gebrochen wurden, ist bislang noch unbekannt. Wenn das Militär einerseits den Widerstand der Armenier bricht und andererseits nicht in der Lage ist, die armenische Bevölkerung vor Übergriffen zu schützen, wenn zugleich noch die Ursachen für die Übergriffe den Armeniern selbst in die Schuhe geschoben werden und wenn die aserbeidjanische Besiedlungspolitik in der Provinz von Moskau weiter gedeckt wird, ist eine politische Lösung von Moskau kaum noch zu erwarten.

Erich Rathfelder